Eine offene Straße
Besprechung von »Maria Hilf! Eine Straße geht ihren Weg« von Gottfried PirhoferFür die dérive-Leser und -Leserinnen außerhalb Österreichs sei zu Beginn kurz erwähnt, dass eine geplante Umwidmung der Wiener Mariahilfer Straße von einer normalen Einkaufsstraße zu einer Mischung aus Fußgängerzone und Shared Space 2013/14 zu einer Diskussion geführt hat, deren Heftigkeit durch den eigentlichen Anlass nicht zu begründen ist. In Wien und teils sogar in ganz Österreich herrschte ob dieser (medialen) Dauererregung eine gewisse Gereiztheit vor, die sich erst gelegt hat, als eine Volksbefragung im März 2014 endlich eine Entscheidung gebracht hatte – und zwar für die Umwidmung. Inhaltlich fundierte Diskussionsbeiträge waren in all den Monaten Mangelware. Gottfried Pirhofers Buch Maria Hilf! Eine Straße geht ihren Weg, das in der Hochphase der öffentlichen Erregung veröffentlicht wurde, kann hingegen niemand den Vorwurf der Oberflächlichkeit machen. Die Lektüre des Buches ist aber nicht nur wegen des genauen Blicks und der umfassenden (auch historischen) Recherche des Autors eine Wohltat. Ich habe selbst einige Jahre unweit der Mariahilfer Straße gewohnt und kenne die Gegend deswegen gut; trotzdem erfuhr ich ständig Neues, wenn ich in Pirhofers Essay über seine Spaziergänge las.
Pirhofer streift durch die Mariahilfer Straße und ihre Seitengassen und erzählt von einem Schwimmbad im ersten Stock und der einzigen urbanen Sauna der Stadt, von den Auswirkungen des Roten Wien auf die Wohnbevölkerung und die Geschäftsstruktur, von den ehemals weinbewachsenen Abhängen zwischen Mariahilfer Straße und Wienfluss, von den Punks als Störenfrieden der Konsumseligkeit. In seine Beobachtungen flicht der Autor Gedanken von Freunden und Gleichgesinnten ebenso wie Thesen und Theorie aus der Stadtsoziologie, Architekturtheorie und Philosophie ein. Diese Stellen sind niemals ein Namedropping oder Beweis der eigenen Belesenheit, sondern reihen sich in den Erzählfluss ebenso ein wie der Bericht über den Kauf eines Messers im Kaufhaus Slama, »eines der wenigen noch verbliebenen Wiener Traditionshäuser«, das jedoch nur wenige Monate nach Veröffentlichung des Buches seine Filiale in der Mariahilfer Straße aufgegeben hat.
Das Buch besteht aber keineswegs nur aus Beiläufigkeiten und Beobachtungen; höchst interessant sind beispielsweise Einschübe über die historische Entwicklung, die die Resilienz der Straße unter Beweis stellen. Einige Gedanken durchziehen das Buch bzw. tauchen immer wieder auf und erweisen sich damit als Punkte von besonderer Bedeutung für die Stadtidee des Autors. Eines dieser Themen sind der Historismus und die Gründerzeit, ein anderes die spekulative Bauwirtschaft bzw. allgemeiner: die unternehmerische Stadt. Über den Historismus und die Gründerzeit schreibt Pirhofer: »Die Baupraxis der Gründerzeit operierte programmatisch ohne Eigenschaften, entlang neutraler Linien und Netze, deren bis heute modernste städtebauliche Ausprägung die von der Gründerzeit überformte alte Stadtstraße und der zwischen diese alten Stadtstraßen gespannte eigenschaftslose Raster ist: nach wie vor der für den Austausch der allgemeinen Funktionssysteme beste Stadtraum. Gleichzeitig sorgte der Historismus dafür, dass die neue Masse (an Menschen und Gebäuden) erträglich wurde, indem ästhetische Muster, die die Wiederholung und Monotonie abschwächten und für das Auge angenehme, zunächst unauffällige, dann subtil differenzierte Oberflächen gestalten.«
Anhand des Hauses, in dem Pirhofer selbst eine Wohnung bewohnt und dem von einem »Immobilienkapitalverwerter« ein Dachgeschoßausbau verpasst wird, handelt er den Themenkreis Aufwertung (»Auf- und Entwertung gehen Hand in Hand«), Immobilienspekulation und Verdrängung ab, der in der wachsenden Stadt Wien wieder zu einem großen Thema geworden ist (ganz aktuell dank der grandiosen Inszenierung der Abwehrschlacht gegen den Räumungsbefehl für die Pizzeria Anarchia in der Mühlfeldgasse im 2. Bezirk durch eine Gruppe Punks und die für die breite Medienberichterstattung hilfreiche und überschwängliche Mithilfe der Polizei diesen Sommer).
Seltsamerweise nimmt die Souveränität des Textes ab, je näher Pirhofer der Umwidmungsfrage kommt. Auch wenn man einigen seiner Argumente durchaus folgen kann – Fußgängerzonen können ja tatsächlich schrecklich öde Räume sein –, ist es schade, dass Pirhofer in dieser Frage nur in die Vergangenheit blickt und kein Potenzial für die Zukunft erkennen mag. Dieses Gefühl beschleicht Pirhofer zwischendurch offenbar auch selbst. Er löst das Problem, indem er seine Frau zitiert: »Du klebst zu sehr am Vergangenen.« Pirhofer friert in seiner Kritik den Zustand des Straßenraums und -lebens gedanklich ein, tauscht nur die Mobilitätsvarianten auf der Straße aus und diagnostiziert ein Elend. Er verschließt sich dem Gedanken, dass die Straße nach der Umwidmung ein Potenzial haben könnte, das neues Leben, neue Ideen und neue Nutzungen hervorbringt. Das Argument, dass das Verschwinden der Autos der Straße einen dörflichen Charakter verleihen würde, mutet angesichts wunderschöner, aber leider vollständig zugeparkter Dorfplätze und Dörfer durchschneidender (Durchzugs-)Straßen eigenartig an.
Ob die Umwidmung gelungen ist oder nicht, ob die Straße veröden oder vor Urbanität erblühen wird, kann man aber ohnehin erst in einiger Zeit beurteilen, weil ja im Moment der Umbau noch in vollem Gange ist.
Gänzlich beizupflichten ist Pirhofer, wenn er die Bedeutung des Gehens hervorhebt, weil es natürlich die allerbeste Methode ist, sowohl um in den Stadtraum einzutauchen als auch um sich durch ihn treiben zu lassen. Deswegen noch ein passendes Abschlusszitat aus Maria Hilf!: »Die Wahlmöglichkeit, sich entscheiden zu können/dürfen, um etwas zu sehen, zu erleben, zu bekommen, entlang des Bekannten, und dabei – ›unverhofft‹ – auf das Unbekannte zu treffen oder an ihm vorbeizugehen, oder das Unbekannte zu suchen und im Vertrauten zu enden und das alles durch Gehen, immer noch erdiges Gehen, ist das Urbane.«
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.