Maja Debska


Städte klingen – das ist nichts Neues für die Welt der Musik. Deutlich wurde dies bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die industrielle Revolution ihren höchsten Pegel erreicht hatte. In den Metropolen polterte und lärmte es von ungewohnten Geräuschen. Diese fanden Resonanz in der Filmkunst, in der Großstadtliteratur und auch in der Musik.
Partituren der Städte ist ein gut gewählter Titel für ein Buch über das Phänomen Klang, das mit der Stadt wie eine Partitur mit ihren Noten untrennbar verbunden ist. die moderne Partitur erscheint heute als eine Art Vorlage, in verschiedensten Formen – als Bild, als Zeichen, in einer abstrakten oder traditionellen Notation. Genauso funktionieren in diesem Band die Partituren der Städte. Sie bilden die städtische Klanglandschaft nicht bloß ab, sondern versuchen möglichst viele Zusammenhänge zwischen Stadt und Musik aufzuzeigen.
Die HerausgeberInnen Susana Zapke, Professorin am Konservatorium Wien und Leiterin des Projektes Music Mapping Vienna. Urban Experiences in the 20th-21st Centuries, und Stefan Schmidl, Dozent an derselben Institution, legen mit dem Sammelband eine Veröffentlichung vor, die Unterschiede zwischen den klingenden Umgebungen der Städte unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Identitäten aufzeigt. Es heißt in der Einführung, es gehe in erster Linie um die urbane Erfahrung, eine mentale Kommunikation mit der Stadt, welche in der Musik reproduziert wird. Dieser Zugang zu Urbanität eröffnet neue Perspektiven auf die Wahrnehmung von Stadt sowie auf die Relation von Musik und Umwelt. Der Stadtorganismus wird nicht mehr nur als Klangkörper verstanden, wie in den Sound Studies, sondern vielmehr als eine textuelle Basis, ein Anreiz, durch das immaterielle und flüchtige Medium Musik die komplexe Beziehung zwischen »der Stadt und der vertonten Stadt« zu entdecken.
In der Einführung wird aufgerufen, entgegen einer Erinnerungs-Souvenir-Kultur auf einen dreidimensionalen Raum zu verweisen, der im lefebvreschen Sinne physisch, mental und sozial erfahrbar ist. dieses Ziel erreicht der Band nicht durchgehend. Es fehlt eine klare Methodologie. Alle Autoren und Autorinnen bringen ausschließlich ihre eigenen Instrumente mit, was daran liegen kann, dass es sich um eine sehr junge Forschungsrichtung handelt. In acht Partituren nähern sich die AutorInnen dem Thema an. Jeder Artikel betrachtet eine andere Stadt und bietet einen neuen Zugang zur musikalischen Raumaneignung. Die Darstellung des konkreten urbanen Raumes rückt etwas in den Hintergrund zugunsten der Ausführung der wissenschaftlich-theoretischen Basis jedes Autors.
Die Beiträge umspannen Räume und Epochen: von der alten Musik des neapolitanischen Barock bis zu Aaron Coplands Filmmusik in New york, von Propaganda- und Massenliedern in Jugoslawien wieder nach Italien zu den Barkarolen der venezianischen Gondoliere.
der Beitrag von Guido Erdmann eröffnet den Band. Er versucht am Beispiel der alten Musik Neapels zu beantworten, was sich unter dem Begriff damaliger musikalischer »Neapolitanität« verstehen lässt. Sein Fokus liegt auf den Zusammenhängen zwischen der Kunstproduktion und der politischen Identität Neapels. Zusätzlich zu den typisch barocken Eigenschaften der Musik Neapels, die sich aus Erdmanns Überlegungen ergeben (wie z. B. musikalisch abgebildete Meereswellen, die einzigartige Notation damaliger Zeit, die nicht lesbar war an anderen Orten, oder die charakteristische Beziehung der neapolitanischen Instrumentalmusik zur Vokalmusik), wird deutlich, wie stark die urbane Partitur Neapels von politischen Auftraggebern und der Förderung entsprechender Institutionen des Musiklebens in dieser Musikhauptstadt geprägt war. Einen ähnlich politischen Ansatz auf die Stadt-Musik-Relation findet sich im Beitrag Nr. drei. Er führt die Abhängigkeit der Kunst von politischen Prozessen etwa zwei Jahrhunderte später unter dem sozialistischen Regime in Jugoslawien vor Augen.
Einen ganz anderen Blickwinkel bietet der zweite Beitrag – er handelt von Aaron Coplands soziopolitischer musikalischer Kritik an der modernen Metropole New york. der Haken dabei ist, dass es sich um Filmmusik handelt – das heißt die Kompositionen Coplands kommunizieren zwar die Stadtkritik, aber sie begleiten Bilder und untermalen die Filmhandlung. An dieser Stelle könnte man fragen, was deutlicher kommuniziert – Bilder oder Musik. Verliert in diesem Duo nicht die Musik an eigener Stärke?
Der darauf folgende Beitrag erfüllt die in der Einführung genannten Ansprüche des Bandes fast zur Gänze. Er behandelt die Venedig gewidmete Musik, liefert aber zugleich einen bemerkenswerten theoretischen Ansatz: Erich Wolfgang Partsch fordert eine Grenzüberschreitung, in der ein physisch greifbarer Raum mit seinen historisch-kulturellen Komponenten dreidimensional gesehen und »in immanent musikalische Strukturen überführt« wird. der Autor betont die Spezifik des Mediums Musik. Während die Malerei sich der visuellen Darstellung und die Literatur sich der Deskription und Nennung bedient, führt die musikalische Stadtaufnahme »über Umwege«. Sie sucht nach einfachen Mitteln wie etwa der Wahl des Schauplatzes, Anspielungen auf bekannte Titel (z. B. den Lagunenwalzer von Johann Strauß, der sich auf die bekannte Operette Eine Nacht in Venedig bezieht) usw. das Klangkolorit und die Aura der Stadt Venedig sieht der Autor z. B. in der Barkarole – also dem Gondelruf oder Gesang der Gondolieri. In fünf Annäherungen zeigt er Wege auf, wie Musik eine Stadt beschreiben kann.
Wieder andere Aspekte liefert das Kapitel Die Stadt als Serail, in dem Michael Hüttler erzählt, wie die gerne in Libretti erwähnte Stadt Istanbul durch eine Mischung von historischen und imaginierten Bildern des Sultanspalasts, des Serail, ersetzt wird. Der Musikmarkt in Prag ist Thema des Beitrages von Richard Kurdivovsky, im Speziellen CD-cCvers, auf denen die Stadt abgebildet ist. Die Verbindung des Covers mit dem musikalischen Inhalt wird angestrebt, ist aber oft beliebig. Ob hier das Prinzip der kommunizierenden Gefäße: Komposition – Coverbild funktioniert, ist auch für den Autor fragwürdig.
Ganz am Ende werden die Beiträge der Herausgeber publiziert. Einer handelt von Rio de Janeiro, von der symphonischen Erkundung der Stadt durch Darius Milhaud – einen französischen Komponisten aus der Gruppe Les Six, der während des Ersten Weltkriegs jedem Stadtviertel von Rio eine Komposition widmete. Damit hat er einen großen Beitrag zur Etablierung von Stadtsymphonien als Musikgattung geleistet. Dieser Artikel ist neben dem Artikel über Venedig beispielhaft für einen interessanten Umgang mit der Umwelt-Musik-Relation, deren Ausgangspunkt die Metropole ist.
Die kompositorische Klammer bildet der Artikel von Susana Zapke, der wieder auf das Thema der Filmmusik zurückkommt. Die Autorin beschreibt die Stadt Wien in den 1950er Jahren und erzählt, wie in der Nachkriegszeit über Musik ein neues »monolithisches« Identitätsgefühl aufgebaut werden sollte. Als Beispiel dienen zwei Werbefilme, die nach Berlin – Symphonie der Großstadt, dem bekannten Film von Walter Ruthmann, entworfen sind. Hier, beim letzten Beitrag, stellt sich verstärkt die Frage nach den narrativen Fähigkeiten des Mediums Musik im Film. Bildet der Film den am besten geeigneten Raum für die musikalische Beschreibung einer Stadt? oder ist es vielmehr so, dass das visuelle Moment die Aussagekraft des auditiven Moments überdeckt?
Insgesamt machen die Partituren der Städte neugierig auf neue Beiträge zu diesem erst wenig erforschten thema. Die Beiträge zu Politik, Filmkunst und Marketing bilden eine spannende Lektüre; am interessantesten ist jedoch, wie sich die subjektive Erfahrung des urbanen Raumes in die Musik einschreibt. Wie sich diese Subjektivität im abstrakten Medium Musik methodologisch und theoretisch fundiert analysieren lässt, ist die größte Frage, die die Lektüre des Sammelbandes hinterlässt.


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