From dusk till dawn in Kreuzberg
Besprechung von »Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol« von Klaus Bittermann»Der ›Graefekiez‹ droht der Gentrifizierung zum Opfer zu fallen, und dann das: Die Milch ist aus«. Das ist kein unerhebliches Problem in einem Bezirk, in dem namhafte Kneipen wie das Wirtschaftswunder oder das West-Germany langsam ihrem Ende zugehen — zu Gunsten von kleinen, schicken Cafés, in denen nun Horden von jungen Menschen aus der Medienbranche ihren täglichen Latte Macchiato genießen. Klaus Bittermann fängt in Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol genau diese Diskrepanz zwischen der »alten Welt« der original »Balliner« und der »neuen Welt« des gentrifizierten Kreuzberger Graefekiez ein. In 79 kurzen Episoden erzählt der Autor, der selbst seit dreißig Jahren in dem Viertel wohnt, von Alltagszenarien, die von Gewinnern und Verlierern der Gentrifizierung berichten. Hier treffen junge Alternative, die in warmen Sommernächten auf der Admiralbrücke feiern, auf Obdachlose und arme Menschen, die am Tag darauf die liegengebliebenen Flaschen in den Supermarkt tragen. »Aufeinander treffen« ist an dieser Stelle eigentlich das falsche Wort, denn in den zahlreichen Alltagsminiaturen wird deutlich, dass sich im Graefekiez verschiedene Welten entwickelt haben, die sich nur wenig füreinander interessieren: Da ist die junge Frau mit den vier Jobs im Kreativbereich und da sind die ebenso jungen Väter in Jack Wolfskin-Jacken, die an Sonntagen in langen Schlangen vor den Bio-Bäckereien des Viertels warten. Aber auch die Alkoholiker, die vor Getränke Hoffmann ihre Tage verbringen, die alte Dame, die manchmal ihr Essen aus dem Fenster wirft, oder der Mann mit Mundschutz und Kaisers-Tüte, der still allen vorbeifahrenden Autos hinterher schimpft.
Obwohl Klaus Bittermann schon sehr lange im Graefekiez lebt, schafft er es mit einem Blick, den man fast als das Gegenteil von going-native beschreiben kann, seine Umwelt zu erfassen. Dies tut er mit einem sehr trocken-sarkastischen Ton, ohne allzu sehr ins Wertende zu gehen. Als Autor und Verleger ist er selbst Teil der Latte-Macchiatisierung und davon berichten auch die Episoden, in denen er von seinem eigenen Alltag zwischen Lesungen, Ausstellungseröffnungen, Cafébesuchen und anderen Veranstaltungen der linken Kulturszene erzählt. Dennoch merkt man ihm die Sympathie für den alten Graefekiez und dessen Einwohner an: »Die Parterre-wohnung neben dem Spätkauf, aus der mich die kleine schwankende und struppelige Frau mit den großen Zahnlücken um einem Euro anhaute, wird gerade saniert. Auf einem Zettel an der Scheibe steht eine Telefonnummer. Der Zettel verrät nicht, was aus der Frau mit den großen Zahnlücken geworden ist. Wieder eine weniger, bei der es auffällt, dass sie nicht mehr da ist (…) bei tausend anderen, die hier wohnen, würde es mir nicht auffallen, weil die alle einen Fahrradhelm aufhaben und weite erdfarbene dreiviertellange Hosen tragen. Wie kann man die alle auseinanderhalten?«
So schafft es Bittermann auf sehr unterhaltsame Art und Weise, durch die vielen kleinen Alltagsbeobachtungen in ihrer nur scheinbaren Banalität ein Schlaglicht auf die aktuell voranschreitende Gentrifizierung in Berlin-Kreuzberg zu werfen. Bittermann trauert nicht nach, er dokumentiert lediglich die Veränderungen in seinem Viertel mit einem ironisch-kritischen Blick: »Zwei Häuser weiter guckt Otto aus dem Fenster seiner Hochparterre-Wohnung. Er guckt da meistens raus. Dafür er hat er sich schon ein Kissen aufs Fensterbrett gelegt, um seine Ellbogen weicher zu betten. Der Mann ist ein Relikt aus dem alten Viertel, als es in der Straße noch kein Café gab, sondern nur einen Sanitärladen. Otto ist ein Gentrifizierungsgewinner, denn er hat heute viel mehr zu gucken als früher.«
Anne Erwand