Gegen eine Rückkehr zur Normalität
Zum Schwerpunkt PandemieEs ist erst wenige Monate her, dass Regierungen weltweit drastische Maßnahmen als Reaktion auf die steigenden Corona-Ansteckungszahlen durchgesetzt haben. Seit einigen Wochen werden diese Maßnahmen zurückgenommen, in manchen Ländern, weil sich die Situation tatsächlich zum Besseren gewendet hat, in anderen wohl vorrangig deshalb, weil wirtschaftliche Interessen bedient werden wollen. In dieser Zeit sind Unmengen von Artikeln und Beiträgen zu Covid-19 veröffentlicht worden, trotzdem finden wir es als Redaktion einer Zeitschrift für Stadtforschung angebracht, einen eigenen Schwerpunkt zum Thema Pandemie zu veröffentlichen. Das hat einerseits damit zu tun, dass Gestalt und Ordnung von Städten viel mehr von Seuchen und Krankheiten beeinflusst und geprägt sind, als man gemeinhin annimmt und andererseits damit, dass es für uns als kritische Zeitschrift ein wichtiger Zeitpunkt ist, um auf das Versagen eines Systems hinzuweisen, das noch selten so offensichtlich war.
Das Leben in Städten war die längste Zeit ihrer Existenz von einer sehr hohen Sterblichkeit gekennzeichnet. Die Lebenserwartung von Stadtbewohner*innen lag über Jahrhunderte um einiges unter derjenigen der Landbevölkerung. Krankheiten und Seuchen rafften regelmäßig große Teile der Bevölkerung hinweg. Das war im antiken Rom und Athen nicht anders als in den europäischen Städten des 14. bis 18. Jahrhunderts, über die der Anthropologe Mark Nathan Cohen schreibt, dass sie möglicherweise die »am stärksten von Krankheiten befallenen und am kürzesten lebenden Bevölkerungen in der Geschichte der Menschheit« (zit. nach Bollyky 2019) waren. Pest-, Typhus- und Choleraepidemien wüteten und kosteten jeweils tausenden Menschen das Leben. Vor allem natürlich jenen, die aufgrund ihrer Armut ihr Dasein unter miserablen Wohnbedingungen und katastrophalen hygienischen Zuständen fristen mussten.
Doch obwohl Bourgeoisie und Arbeiterklasse natürlich nicht in denselben Vierteln wohnten, waren auch Bürger*innen nicht davor gefeit, an Seuchen zu erkranken und zu sterben. Gegenmaßnahmen waren also notwendig, nicht zuletzt auch, um den »Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern« (Marx & Engels 1972, S. 488), wie im Kommunistischen Manifest zu lesen ist, das während der Hochzeit der Typhus- und Choleraepidemien verfasst wurde. Friedrich Engels sah »die menschenfreundlichen Bourgeois in edlem Wetteifer für die Gesundheit ihrer Arbeiter« (Engels 1999, S. 233) entbrennen. Dass genau dieser Aspekt auch in Zeiten von Covid-19 nicht übersehen werden sollte, darauf weißen Vilenica et al. in ihrem Artikel Covid-19 und die Wohnungskämpfe (S. 46–54) hin.
In den letzten Cholera-Epidemien in Wien (1866 und 1873) starben fast nur mehr arme Stadtbewohner*innen.[1] Die Unterprivilegierten waren den Seuchen aber nicht nur am stärksten ausgesetzt, sie wurden auch immer wieder für ihre Verbreitung verantwortlich gemacht und im Zuge solcher Kampagnen als gefährliche Klasse denunziert. Zuletzt beispielsweise Bewohner*innen des Iduna-Zentrums in Göttingen oder eines Asylwerber*innenheimes in Wien. In diesem Zusammenhang ist auch die Dichte-Debatte zu sehen, die den städtebaulichen Diskurs seither begleitet.
Aus dem Umstand, dass Arbeiter*innen in sehr dichten Wohnvierteln lebten und leben, wurde und wird immer wieder der Schluss gezogen, Dichte an sich wäre das Problem, das es zu beseitigen gilt. Die Fantasien und Gerüchte darüber, wie das Leben in den dichten Arbeiter*innenquartieren aussieht – Kriminalität, Promiskuität, Krankheiten – war nicht nur für hetzerische Kampagnen und Werke der Literaturgeschichte verantwortlich, sondern in Folge auch für städtebauliche Konzepte, die beispielsweise für die aufgelockerte Stadt eintraten. Nicht die physisch ruinösen Arbeitsbedingungen, die fehlende Möglichkeit zur Regeneration aufgrund extrem langer Arbeitszeiten, Unterernährung bzw. ungesunde Ernährung, fehlende Bildung und Gesundheitsversorgung oder völlig unzureichend ausgestattete, feuchte Wohnungen seien das Problem, sondern die Dichte. Die Dichte, die genau das ermöglichte, was das Überleben irgendwie möglich machte: alltägliche Solidarität und gegenseitige Hilfe im Viertel. Bis heute passiert es, dass soziale Strukturen sowie die lokale Möglichkeit für (informelle) Arbeit unter dem Vorwand, bessere Wohnverhältnisse für Slumbewohner*innen zu schaffen, zerstört werden, indem die verantwortlichen Politiker*innen die Bewohner*innen an den Stadtrand absiedeln. Zufälligerweise können die ehemaligen Grundstücke dann immer wieder teuer verkauft oder mit ertragreichen Immobilien bebaut werden.
Zwei der wichtigsten baulichen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung waren der Bau stadtweiter Kanalisationsnetze und die Versorgung aller Haushalte mit sauberem Trinkwasser. In Wien konnte die Cholera endgültig erst mit dem Bau der äußerst eindrucksvollen 95 km langen, 1873 eröffneten 1. Wiener Hochquellenleitung, die die lokalen Hausbrunnen ersetzte, und der Wienflussregulierung im Zuge des Baus der Stadtbahn, verdrängt werden.[2]
Neben reinem Wasser galten und gelten natürlich auch saubere Luft und Licht als wichtige Voraussetzungen für ein gesundes Leben in der Stadt, wobei die Annahme der Bedeutung sauberer Luft bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch eine Folge der ebenso gebräuchlichen wie falschen Annahme, giftige Ausdünstungen des Bodens (Miasma) seien für die Ausbreitung von Seuchen verantwortlich, zurückzuführen ist.
So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Errichtung von Parks, Spielplätzen und sogar Schrebergärten als sozialhygienische Maßnahme im Sinne der Gesundheitsversorgung gesetzt wurde.[3] Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl New Yorks Central Park, die »Lunge der Stadt« wie sie der Landschaftsarchitekt Frederick Olmsted, der gemeinsam mit dem Architekten Calvert Vaux den Wettbewerb für die Gestaltung des Central Parks gewonnen hat, bezeichnete.
Covid-19 und die Wirtschaftskrise
Wie zu den Zeiten der großen Epidemien des 19. Jahrhunderts geht es auch heute bei all den Hilfsmaßnahmen nicht darum, langfristig neue Strukturen aufzubauen, die gegenüber Krisen resilienter sind und nicht jedes Mal aufs Neue zig Millionen vor existenzielle Probleme stellen, sondern darum, den stockenden Motor des Kapitalismus wieder in Gang zu bringen: Koste es, was es wolle. Unser Wirtschaftssystem wäre aufgrund seiner hohen Produktivität ohne Probleme in der Lage, Güter in einem Ausmaß zu produzieren, die eine ausreichende Versorgung der Menschheit mit allem Lebensnotwendigen garantiert. Das Paradox an unserer aktuellen Situation ist nun, dass es zu einer Wirtschaftskrise gigantischen Ausmaßes kommt, weil eine Pandemie es notwendig macht(e), für ein paar Wochen den Arbeitsalltag neu zu organisieren und einige Bereiche vorübergehend einzustellen. Das Problem ist nun aber nicht, dass es zu wenige Lebensmittel, Kleidung oder Wohnungen gibt, sondern, dass viele Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit über weniger oder kein Einkommen mehr verfügen, um diese bezahlen zu können. Gleichzeitig fragen sich Investor*innen, ob es schon der richtige Zeitpunkt ist, um wieder Aktien zu kaufen oder sie besser warten sollten, bis die Krise noch größer wird, weil der zu erwartende zukünftige Profit dann noch höher sein wird.[4] Normalerweise verkündet die Ideologie-PR in Situationen, in denen Menschen vor existenziellen Problemen stehen, sie seien zu wenig tüchtig, zu wenig gebildet, zu wenig hartnäckig, zu unflexibel, zu wenig leistungsbereit etc. und brauchen sich deswegen nicht wundern, wenn sie nicht ausreichend Geld zur Verfügung haben. Doch diesmal ist es einfach völlig offensichtlich, dass keiner dieser Gründe angeführt werden kann, weil niemand, der/die durch die Pandemie arbeitslos geworden ist oder nun weniger Einkommen hat als zuvor, selbst dafür verantwortlich gemacht werden kann.
Und siehe da, jetzt wo das System in Gefahr ist, weil die Kaufkraft bzw. die Möglichkeit Geld auszugeben nicht mehr im notwendigen Ausmaß vorhanden sind, können plötzlich hunderte Milliarden Euro und Dollar aufgebracht werden, die teils freihändig verteilt werden, um den Laden wieder in Schwung zu bringen. Wie schon bei der Finanzkrise 2008 zeichnet sich auch bei Covid-19 ab, dass keinerlei Überlegungen angestellt werden, wie die Grundversorgung der Menschheit in Zukunft auch in Zeiten von Krisen aufrecht erhalten werden könnte, ohne jedes Mal große Teile der Bevölkerung unnötig dem Ruin auszuliefern. Was, um es noch einmal zu betonen, angesichts der Tatsache, dass es die Güter gibt oder sie jederzeit hergestellt werden könnten, die dafür notwendig sind, besonders grotesk ist.
Die Milliarden, die jetzt verteilt werden, dienen ausschließlich dazu, die Mauern des Systems zu stützen und die Löcher zu stopfen, damit möglichst schnell die Rückkehr zu dem, was aktuell unter den Begriff Normalität läuft, gelingt. Doch genau diese Normalität gilt es in Frage zu stellen. Die Pandemie zeigt, wie wichtig eine soziale Infrastruktur und eine eigenständige Alltagsökonomie für ein gutes Leben für alle sind (siehe dazu die Beiträge von Bärnthaler et al., S. 06–11 sowie von Ayona Datta auf S. 18–20) und dass es der Gebrauchswert der Güter ist, auf den wir schlussendlich zählen können müssen und nicht der Tauschwert (Berardi 2020).
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Fußnoten
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Berardi, Franco »Bifo« (2020): Jenseits des Zusammenbruchs. Drei Betrachtungen zu einer Zeit danach. In: transversal texts, übersetzt von Adrian Hanselmann. Verfügbar unter: https://transversal.at/transversal/0420/berardi/de
Bollyky, Thomas J. (2019): The Future of Global Health Is Urban Health. Verfügbar unter https://www.cfr.org/article/future-global-health-urban-health [Stand 24.006.2020]
Engels, Friedrich (1973) [1872/73]: Zur Wohnungsfrage. In: Marx, Karl & Engels, Friedrich: Werke. Band 18. Dietz Verlag: Berlin. S. 209–287.
Fisher, Thomas (2010): Frederick Law Olmsted’s Campaign for Public Health. In: Places, 11/2010. Verfügbar unter: https://placesjournal.org/article/frederick-law-olmsted-and-the-campaign-for-public-health/ [Stand 24.06.2020]
Marx, Karl & Engels, Friedrich (1972) [1848]: Manifest der Kommunistischen Partei. In: dies.: Werke. Band 4. Dietz Verlag: Berlin. S. 459–493.