Großwohnsiedlungen in Bratislava und ihre versteckte Anmut
Besprechung von »Bratislava. Atlas of Mass Housing, 1950 - 1995« von Henrieta Moravčíková, Mária Topolčanská, Matúš Dulla, Katarína Haberlandová, Slávka Toscherová, Peter Szalay und Soňa ŠčepánováIm Rahmen der Architekturtage 2012 haben ArchitekturhistorikerInnen Bratislava auf sportliche Art präsentiert – mit dem Fahrrad durch Plattenbauwohnsiedlungen, um ihre »abstrakten Landschaften« zu entdecken. Plattenbauwohnsiedlungen bleiben ein Schwerpunkt der aktuellen Diskussionen über post-sozialistische Städte, während sie als auffällige Stadt-silhouetten gleichzeitig zu ihren typischen Trademarks geworden sind. Zu dieser Diskussion will auch der Atlas der Großwohnsiedlungen beitragen.
Der Aufbau der weiten Landschaften modernistischer Großwohnsiedlungen hing mit der Industrialisierung des Bauwesens und der Unterordnung der Entwurfsprozesse unter IngenieurInnen- und ExpertInnenkollektive zusammen. In sozialistischen Ländern stand darüber hinaus diese Art von Architektur noch eng mit der Politik des autoritären Regimes in Verbindung. Für das AutorInnenkollektiv war die Auseinandersetzung mit diesem komplexen Thema eine Erweiterung vorheriger akademischer Forschungsarbeiten über Plattenbausiedlungen im mitteleuropäischen Raum. Bratislava stellt im regionalen Kontext ein besonders gutes Studienbeispiel dar – hier wurde mit den meisten städtebaulichen Konzepten und vorfabrizierten Gebäudetypen experimentiert und fand der Bau der Siedlungen im größten Maßstab statt.
Die Panel Story (der Untertitel der Publikation stammt von einem kritischen Film von Věra Chytilová aus den 1970er Jahren) wird in drei Teilen erzählt: Der erste Teil beschäftigt sich mit dem breiteren Hintergrund, der Ideengeschichte in Städtebau und Architektur, die zu Plattenbauwohnsiedlungen führte. Referenzpunkt ist die Charta von Athen (1933), die eine Sammlung von Antworten auf die mit dem beispiellosen Wachstum der Industriestädte verbundenen sozialen Fragen sein sollte. Die Ideen dieses Manifests modernen Städtebaus forderten eine radikale Abkehr von traditionellen Formen wie Plätzen und geschlossenen Höfen und ihre Ersetzung durch freistehende Hochbauten, die durch Verkehrskorridore anstatt traditioneller Straßen verbunden wurden. Variationen dieses Leitprinzips herrschten seit Mitte der 1950er Jahre in der Stadtgestaltung in West- sowie Osteuropa vor.
Die Planung der ersten Massenwohnsiedlungen in der Tschechoslowakei hing mit der Entstehung einer zentral geplanten Wirtschaft und der Eingliederung aller Architekturbüros in zentralisierte Planungsinstitute zusammen. Weil die einzelnen Wohnhäuser ausschließlich typisierte Bauprojekte waren, bot das Gebiet des Städtebaus mehr Spielraum für individuelle architektonische Kreativität. Aufgrund von politischen Faktoren wie einer fehlenden Kritik an der technokratischen Planung und einer Legislative, die eine effektive Immobilienenteignung ermöglichte, konnte moderner Städtebau in Bratislava – ähnlich wie in anderen Städten des sozialistischen Blocks – radikaler und über eine längere Zeitperiode umgesetzt werden als in Staaten mit pluralistischen politischen Systemen; was schließlich in weitgehender Diskreditierung dieses Aufbaus resultierte. Der Atlas geht jedoch auf die Ambivalenz des ganzen Phänomens ein: Die Wohnsiedlungen wurden in den letzten Jahren der Perestroika als Fiasko des Staatssozialismus harsch angeklagt, gleichzeitig ist aber schwer zu bestreiten, dass sie einen effizienten Weg aus der andauernden Wohnungsknappheit mit passablem Qualitätsstandard lieferten. Oft übersehen wird dabei auch die Qualität städtebaulicher Formen und Pläne, die in vielen Fällen nur fragmentarisch ausgeführt wurden.
Der zweite Teil ist ein Ortslexikon, das in chronologischer Folge alle 21 Großwohnsiedlungen Bratislavas vorstellt. Diese werden durch Pläne, eine kurze Entstehungsgeschichte, Bilder, Fotos und statistische Tafeln präsentiert. Im grafischen Teil sind die städtebaulichen Entwürfe oder der Blick auf die Siedlungen gleich nach Fertigstellung abgebildet. Ziel der AutorInnen war die Rekonstruktion idealer Konzepte, die der im Laufe der Zeit immer stärker schwankende Bausektor oft nicht liefern konnte. Vornehmlich Grundrisse und Ansichten präsentiert der dritte und letzte Teil – ein kurzer Katalog typisierter Objekte im Bereich des Wohnbaus und gängiger Infrastruktur.
Die Hülle des Buches spiegelt die Einstellung der AutorInnen zur Problematik wider: Anstatt der Karte Bratislavas sehen wir einen Schwarzplan der Plattenbauten über die Stadtlandschaft verbreitet, wodurch die Aufmerksamkeit auf die Gebiete gelenkt wird, die gewöhnlich als graue Elemente des Alltags banalisiert werden. Gleichzeitig illustriert diese Karte den breiteren Einfluss des Siedlungsbaus auf den qualitativen Wandel im urbanen Charakter und der alltäglichen Realität Bratislavas. Seit Ende der 1970er Jahre wohnten dem Atlas nach bereits 90 Prozent der EinwohnerInnen in Plattenbauten. Laut den AutorInnen soll das Buch unter anderem als Handbuch für PlanerInnen und ArchitektInnen bei Interventionen in Wohnsiedlungen dienen. Der Funktion eines klassischen Schulbuchs entspricht auch die ganze Gestaltung des Buches – in einer auffälligen Plastikhülle, mit minimalistischem Grafikstil und geringer Farbigkeit. Erzählungen über Planungskonzepte und Entwicklungen des Aufbaus werden mit vielen ansprechenden Statistiken und Graphiken belegt.
Der Atlas im Titel des Buches ist eine leichte Übertreibung. Eine 300 Seiten dicke Plattenbaumonographie allein ist wahrscheinlich keine ausreichende Ausrüstung für plattengierige KulturtouristInnen, Fans und ForscherInnen, die gern ins Feld aufbrechen wollen. Auf jeden Fall wirft er einen analytischen Blick auf eine universale Problematik aus Lokalperspektive. Plattenbauten als Produkt der Moderne werden als Denkmal und Dokumentation einer wichtigen historischen Epoche des Um- und Aufbaus der Gesellschaft gesehen. Der retrospektive Blick romantisiert aber nicht verlorene Utopien. In erste Linie geht es um eine konsequente Bestands-aufnahme und eine Dokumentation dieses Erbes am Fallbeispiel einer Stadt und der Präsentation ihrer sonst unsichtbaren Aspekte. Ohne Verständnis für dieses urbane Erbe ist auch die Logik der heutigen Stadt nicht zu erfassen.
Marián Potočár