Grundlagen für eine kulturwissenschaftliche Architekturforschung
Besprechung von »Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Zur Ästhetik des sozialen Raumes« herausgegeben von Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland MeyerWas weiß die Architektur? Was kann durch das Wissen der Architektur an Wissen gewonnen werden? Was kann über das Wissen der Architektur gedacht, reflektiert, verhandelt werden? Mit einem auf zwei Bände angelegten Reader, dessen erster Band 2011 erschienen ist, vermessen, queren und kombinieren die drei HerausgeberInnen, Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer, für den deutschsprachigen Raum zum ersten Mal historische wie zeitgenössische Positionen aus dem kulturwissenschaftlichen Feld.
Architekturwissen und Architekturforschung sind zu leitenden Begriffen aufgestiegen, die Re-Orientierungen in den Architekturausbildungsstätten sowie eine Neupositionierung zu den Fragen des Wissens der Architektur in Lehre, Forschung und Praxis erfordern. Die Architektur ist wie die Künste eine Disziplin geworden, die sich mit der Frage der Konzeption von Forschung und Wissensproduktion zu konfrontieren hat. Aus der Logik der Ausbildungsstätten ist dies nicht nur in einem ideellen Sinne aufzufassen, sondern vor allem auch in einem Sinne der Finanzierung von Forschung, der Konzeption dieses Architekturwissens in Hinblick auf Zugang zu Drittmitteln und Forschungsgeldern.
Der kognitive Kapitalismus, der auf die Ressource Wissen und die geistigen Fähigkeiten der Subjekte setzt, und die Agenden der Lehre haben in dieser Allianz zueinander gefunden. Umso wichtiger ist es, den Raum der Kritik in diese Allianzen einzuführen.
In der multidisziplinären Praxis der Architektur, die historisch sowohl Teil
des künstlerischen wie des technologischen Ausbildungskanons ist, mit den beiden paradigmatischen Formationen der Ecoles des Beaux-Arts und den Ecoles Polytechniques, ist die Frage nach der Reflexion der Wissensbestände eine spezifisch komplexe und drängende. Es gilt folglich, implizites Wissen, wie das in Entwurfsprozessen zum Tragen kommende Wissen, explizit machen zu können und explizites Wissen fraglich werden zu lassen, damit Wissen in prozesshafter Erzeugung gehalten bleibt und nicht statisch gefriert. Kulturwissenschaftliche Wissensproduktion zeichnet sich durch die Verknüpfung von Feldern aus – dies verbindet sie in exemplarischer Weise mit der Architektur, die Wissen von der Technologie bis zur Ökonomie, von Materialien bis zu Ästhetik, von Politik bis zu Gesellschaft in sich verbindet und zugleich Einflüsse auf die genannten Felder ausübt. Genau dieses Multiverselle der Architektur ist die entscheidende Verknüpfung zum Kulturwissenschaftlichen, das sich ebenso durch Multiverselles auszeichnet. Genau aus diesem Grund ist der Reader, der mit Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Zur Ästhetik des sozialen Raumes nun vorliegt, ein nicht nur zeitgemäßes, sondern vor allem notwendig erscheinendes Unterfangen, um Positionen architekturkulturwissenschaftlich zueinander zu positionieren. Diese haben zu einem großen Teil zwar in ihrer jeweiligen Spezialdisziplin, sei dies nun die Fotografiegeschichte wie mit Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz oder die Soziologie wie mit Pierre Bourdieus* Sozialer Raum, symbolischer Raum*, um nur zwei Beispiele aus der Textsammlung anzuführen, ohnehin als vielzitierte und vieltradierte kanonischen Rezeptionsstatus erlangt, jedoch nicht in diesem sich hier auftuenden neuen Wissensfeld, das die drei HerausgeberInnen erstellen. Es ist der Perspektivenwechsel auf diese Texte, der sie für eine Generation von LeserInnen, die mit diesem Textkorpus vertraut sind, nun mit neuem Interesse auflädt. Für diejenigen LeserInnen, die einer jüngeren Rezeptionsgeneration angehören und diesen Texten erstmals begegnen, sind sie somit bereits selbstverständlich in einer Orientierung auf Architekturwissen hin eingebettet, um somit neue Reflexionsdimensionen und Forschungsfragen eröffnen zu können.
Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer, alle drei an der Universität der Künste Berlin im Studiengang Architektur tätig, haben mit ihrem Band einen Wissensspeicher erzeugt, der Verwendungsweisen für Lehre, Forschung und Praxis nahelegt. Die sechs Themenfelder, entlang derer die Kapitel dieses Readers als grundlegende Einführung in Sachen Architektur-Kultur-Wissenschaft komponiert wurden, sind: Architektur als Kunst macht den Anfang, gefolgt von Techniken der Wahrnehmung, Geschichte der Sinne, Körper, Leib und Raum, Lesbarkeit und abschließend Praktiken und Situationen.
In einer Zeit, in der Studierende wie Lehrende an Universitäten vor ein immer unübersichtlicher werdendes Feld an Neuerscheinungen und Textproduktionen gestellt sind und das Lesewerkzeug Internet zunehmend das Buch in der Alltagsbenutzung verdrängt, sind Reader wie der hier zusammengestellte ein unerlässliches Werkzeug für Orientierungen und Ausrichtungen von Lehrveranstaltungen und Verankerungen im Curriculum der Architekturausbildung. Für Orientierungen im Forschungsbereich Architekturwissen und auch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive können die versammelten Texte Ausgangspunkte für die Entwicklung von Forschungsfragen und Forschungsprojekten bieten. In diesen beiden genannten Bereichen, Lehre und Forschung, lassen sich die produktiven zukünftigen Wirkungen und Anwendungen des versammelten kulturwissenschaftlichen Architektur-Wissens leicht imaginieren. Viel schwieriger scheint dies jedoch in Hinblick auf eine tatsächliche Wirkung auf die Dynamiken der Architektur als Praxis des Entwerfens und Bauens. Hier aus einem Buch heraus die Möglichkeiten des Wissenstransfers und der Debatte in das Gebaute und seine Neuorientierung zu eröffnen, ist zu diesem Zeitpunkt der akzelerierten und damit immer flüchtiger werdenden Rezeptionen intellektueller Produktion eine schwierige Angelegenheit. Nicht der Text, sondern das Bild ist in der Praxis von ArchitektInnen als Kommunikationswerkzeug und Informationswerkzeug über Architektur zentral. Texte brauchen Zeit, die man sich für Bilder nicht mehr zu nehmen braucht. Gleichzeitig steigt der Druck auf die Neudefinition von Architektur in der Phase des PostIkonischen und unter den Bedingungen der Globalisierung. Architektur steht daher vor der Herausforderung, sich trotz Krise, Neoliberalismus und großmaßstäblicher, developergetriebener Stadtentwicklung als verantwortungsbewusster gebauter Raum zu behaupten. Die Schärfung der Reflexion ist daher ein mehr als zeitgemäßes Werkzeug in der derzeitigen kulturellen Rezeptions- und Produktionslage. Mehr denn je ist ein Buch aber gefordert, Zeit und Raum für sich zu beanspruchen, um eine kritische Reichweite überhaupt erreichen zu können. Die richtigen Werkzeuge, um das Werkzeug Architekturwissen zu verbreiten, sind diesem Buch als Plattformen der Dissemination und Zirkulation daher zu wünschen.
Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.