Michael Grisko


Jahr für Jahr verzeichnet die Tourismusbehörde Singapurs aufs Neue mehrere Millionen Besucher und Besucherinnen in dem südostasiatischen Stadtstaat. Die überwiegende Mehrheit von ihnen nutzt den Zwischenstopp zu und von den Fernreisezielen in der Region vor allem zum Einkaufen in den unzähligen modernen Einkaufsmalls der Stadt. Singapur als vollklimatisiertes Einkaufszentrum – das dürfte der Eindruck sein, den die meisten Touristen und Touristinnen von ihrem Besuch nach Hause mitnehmen.

Die Metropole wird vor allem als moderne und wohlhabende Stadt wahrgenommen, die sich damit positiv von den meisten anderen Städten Südostasiens abhebt. Sauberkeit, Ordentlichkeit und eine funktionierende Infrastruktur sind die Aspekte, die viele Menschen in Westeuropa in erster Linie mit dem Stadtstaat verbinden. Ein Image, an dem die Regierung mit ihrer unermüdlichen Öffentlichkeitsarbeit ebenso eifrig wie erfolgreich arbeitet.

Auch in anderen Bereichen spielt die Stadt immer wieder eine wichtige Rolle – etwa wenn es darum geht, die Erfolge „nachholender Entwicklung“ aufzuzeigen. Kaum eine Diskussion über die Probleme und Herausforderungen städtischer Entwicklung in den Metropolen des Südens ohne Hinweis auf die Erfolge eines umfassenden staatlichen Wohnungsbaus oder eines modernen und sehr effizienten öffentlichen Nahverkehrs.

Auf die politischen Verhältnisse wird zumeist verstohlen mit dem Attribut der „Semidemokratie“ verwiesen, um dann umso emphatischer den erreichten Wohlstand und die zentrale Rolle des Stadtstaats als Industriestandort und Finanzzentrum in Südostasien hervorzuheben. Die sozialen Kosten der autoritären Entwicklungspolitik Singapurs und ihre Folgen für das politische Leben dort bleiben dabei in der Regel ausgeblendet.

Hier setzt das Buch Singapur – globale Stadt und autoritärer Staat des Politikwissenschaftlers Rolf Jordan an, indem es die sozialen Kosten jenes „autoritären Developmentalism“ aufzeigt, der Singapur zwar zu einer der wohlhabendsten Städte weltweit gemacht hat, in der aber zugleich Meinungsfreiheit und politische Opposition weitgehend eingeschränkt bleiben. In sieben Essays zeigt das Buch die vielfältigen Formen autoritärer Herrschaft in Singapur auf und fragt nach den Gewinnern und Verlierern dieser erfolgreichen Entwicklungspolitik.

Zentrales Element autoritärer Politik in Singapur ist sicher die mit weitreichenden Befugnissen ausgestattete Planungsbürokratie, die gemeinsam mit den Konzernen des staatlichen und teilstaatlichen Unternehmenssektors seit nunmehr mehr als vier Jahrzehnten für die Umsetzung der ambitionierten Entwicklungsplanung der herrschenden Eliten zuständig ist. Während die Investitionen der staatlichen Temasek-Holding und ihrer Tochterunternehmen längst über die engen Grenzen des Stadtstaates hinausreichen, untersteht der gesamte staatliche Unternehmenssektor bis heute keinerlei parlamentarischer Kontrolle. Zugleich ist der ökonomische Erfolg dieser Entwicklungspolitik die bis heute wichtigste Basis der seit der Unabhängigkeit 1965 regierenden People‘s Action Party (PAP). Oppositionsparteien, wiewohl zu den Parlamentswahlen zugelassen, werden von der PAP durch ein Vielzahl von Maßnahmen an der Teilhabe an der politischen Macht im Stadtstaat gehindert. Mehrheitswahlrecht, Restriktionen des Wahlkampfs, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und der gezielte Einsatz juristischer Mittel gegen ihre Politiker führen bis heute dazu, dass diese nur sehr wenige Sitze im Parlament erringen können – zu wenige, um die Politik der PAP zu kontrollieren oder gar zu verändern.

Das Buch entwickelt ebenso kenntnisreich wie eingängig nachvollziehbar diese Strukturen hinter den Erfolgen und zeigt kritisch deren problematische Dimension. Denn obwohl das Land unbestreitbare Erfolge seiner Entwicklungspolitik vorweisen kann, partizipieren längst nicht alle Menschen am erreichten Wohlstand. Besonders im Bereich der sozialen Absicherung zeigen sich die Schattenseiten einer ausschließlich auf Wachstum und Prosperität beruhenden Sozialpolitik. Immer mehr Menschen sind heute von Arbeitslosigkeit, sinkenden Löhnen und Gehältern, unzureichender medizinischer Versorgung und ungenügender staatlicher Altersvorsorge betroffen.

Im Stadtbild ist diese Armut, ganz anders als in vielen anderen Städten, bisher noch kaum sichtbar, doch in den großen New Towns außerhalb des Zentrums ist sie längst alltägliche Realität. Unsichtbar bleiben zumeist auch die Arbeits- und Lebensbedingungen der mehr als 600.000 ArbeitsmigrantInnen. Beschäftigt vor allem in den Haushalten der Mittel- und Oberschicht und auf den unzähligen Baustellen der Stadt, unterliegt ihr zeitlich begrenzter Aufenthalt in Singapur einer Vielzahl von Restriktionen und ihre Einkommen liegen am unteren Ende der Lohnskala. Und trotz ihrer großen Bedeutung für die Wirtschaft des Staats nehmen nur wenige Menschen von ihrer prekären Situation Notiz.

Rolf Jordan zeigt eindringlich die Schattenseiten einer Entwicklung, von deren Erfolgen eine immer größere Zahl von Menschen auch in Singapur ausgeschlossen bleibt. Und angesichts einer weiterhin unter den repressiven Bedingungen leidenden Opposition bleibt der Autor für die nahe Zukunft hinsichtlich eines politischen Wandels hin zu mehr Demokratie und besserer sozialer Absicherung skeptisch. Auch wenn in Singapur mittlerweile erste vielversprechende Ansätze zivilgesellschaftlichen Handelns sichtbar werden, aus den politischen Entscheidungsprozessen wird die Bevölkerung von der herrschenden People‘s Action Party bisher aber noch erfolgreich herausgehalten. Längst fungiert der Stadtstaat dabei mit seiner repressiven Entwicklungspolitik als Blaupause für die Entwicklung der chinesischen Küstenstädte.


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