Lobby für Lobbylose
Besprechung von »Nachkriegsmoderne kontrovers. Positionen der Gegenwart« herausgegeben von Olaf GisbertzMan kann nicht behaupten, dass es zur Zeit nicht einiges an Sammelbänden zu Denkmalpflege der Architektur der 1950er und 1960er Jahre gäbe. Die meisten sind Publikationen in der Nachfolge von Tagungen, und diese wiederum hatten meist einen konkreten Sanierungs- oder drohenden Abrissfall zum Anlass und konzentrieren sich daher z. B. auf bestimmte Bauaufgaben, auch um das Anlass-Objekt in die Architekturgeschichte einordnen und seinen Stellenwert damit festschreiben zu können. So zum Beispiel der im Mai 2010 erschienene Band zur Beethovenhalle in Bonn (Martin Bredenbeck, Constanze Moneke, Martin Neubacher (Hg.), Beethovenhalle Bonn — Konzerthaus Festsaal Denkmal. Bonn: Weidle Verlag, 2010), der der Abriss drohte. Dank zahlreicher Initiativen, vielleicht auch dank der gut und kompetent gemachten Publikation, konnte der Bau gerettet werden. Ein anderer Band widmete sich 2011 dem 1960er-Jahre-Werk von Rolf Gutbrod (Klaus Jan Philipp (Hg.), Rolf Gutbrod. Bauen in den Boomjahren der 1960er, Salzburg: müry salzmann, 2011), der in Deutschland vor allem für die in den 1950er Jahren entstandene, auch im Band über die Beethovenhalle vorgestellte Liederhalle in Stuttgart berühmt, in Wien aber eher für die Botschaft der Bundes-republik berüchtigt ist, einen Bau aus Gutbrods brutalistischer Phase, der heute mehr noch als den 1950er Jahren eine Lobby fehlt und die durch notwendige Sicherheitsmaßnahmen baulich zusätzlich gelitten hat. Umso erfreulicher ist es, auch einen Aufsatz zur Sanierung des Wiener Baus zu finden.
Der nun erschienene Band Nachkriegs-moderne kontrovers nimmt die Universi-tätsbauten von Braunschweig zum Anlass für eine nähere Beleuchtung der Braunschweiger Schule der Nachkriegs-moderne. In mehreren kompetenten Überblickstexten wird diese in die globale, in die europäische und in die westdeutsche Wiederaufbauzeit und ihre Ideologien eingebettet und in ihrer Komplexität damit um neue Facetten bereichert — etwa in Texten vom Herausgeber Olaf Gisbertz zur Architekturkritik der Nachkriegsjahre und von Wolfgang Pehnt über die Architektur der 1960er. Es folgen Texte zu Hochschulbauten der westdeutschen Nachkriegszeit von der Architekturkritikerin der Süddeutschen Zeitung, Ira Mazzoni, und anderen, zu einem guten Teil im thematisierten Jahrzehnt geborenen Autoren und Autorinnen (inklusive der »Rostlaube« der FU Berlin von Candilis/Josic/Woods/Schiedhelm und den eleganten Zwillings-Scheibenhochhäusern der Uni Stuttgart) und schließlich eine Fokussierung auf den von Friedrich Wilhelm Kraemer, Dieter Oestlerlen und anderen entworfenen Braunschweiger Campus. Die beiden Architekten, deren gebautes Werk sich weitgehend auf Norddeutschland beschränkt, dürfen als lohnende (Wieder-)Entdeckungen der Architekturgeschichte gelten — und es bleibt zu hoffen, dass sich diese Erkenntnis auf breiter Ebene durchsetzt. Immerhin verhinderten BürgerInnenproteste in Hannover letztes Jahr den bereits beschlossenen Abriss von Oesterlens Niedersächsischem Landtag.
Ein weiterer Teil des Bandes umfasst — was dem Ursprung in einer Tagung geschuldet sein dürfte — Projektberichte von Architekturbüros, die Sanierungskonzepte für Bauten der 1960er Jahre vorstellen, unter anderem Sep Rufs ikonischen Kanzlerpavillon in Bonn, der zu einem Vorzeige-Restaurierungsobjekt der Wüstenrot-Stiftung wurde. Mögen die die originale Bausubstanz zum Teil beträchtlich verändernden Konzepte überzeugen oder weniger, so sind sie — sofern sie nicht komplett misslungen sind wie die unsensible Sanierung von Max Bills Ulmer Hochschule für Gestaltung — doch auf jeden Fall konstruktive Ansätze für eine nutzungsorientierte Erhaltung von Bausubstanz aus einer Dekade, die heute wohl vor größeren denkmalpflegerischen Herausforderungen steht als jede andere. Anlass also besteht mehr als genug für das Buch, das nicht zuletzt auch grafisch gut und sorgfältig gemacht ist und damit seinem Gegenstand in seinem ebenso souveränen wie zurückhaltenden Ansatz auf erfreuliche Weise gerecht wird.
Iris Meder