Obsoleszenz als Paradigma der Stadtplanung überdenken
Besprechung von »Rethinking Obsolete Typologies. Potentials and Scenarios« von Anamarija Batista u. Julia SiedleAnamarija Batista, Julia Siedle
Rethinking Obsolete Typologies.
Potentials and Scenarios
Basel: Birkhäuser, 2025
288 Seiten, 54 Euro
Was haben ein Kaufhaus in der Innenstadt und ein Bezirkszentrum in der Peripherie gemeinsam? In Wien wurden beide Gebäude kürzlich für unbrauchbar erklärt und zum Abriss freigegeben. Auf dem ersten Bauplatz wurde bereits mit dem Bau eines Luxuskaufhauses begonnen, auf dem anderen Grundstück sollen Wohnen und Gewerbe entstehen. So weit, so alltäglich. Dennoch drängt sich die Frage auf, wie es dazu kommt, dass ein gerade mal 100 bzw. 50 Jahre altes Gebäude zum Abriss freigegeben und die einst mit hohem Aufwand errichtete Bausubstanz entsorgt wird?
Im Buch Rethinking Obsolete Typologies. Potentials and Scenarios von Anamarija Batista und Julia Siedle wird dieses Phänomen mit dem Prinzip der Obsoleszenz erklärt, die als Werkzeug zur Krisenbewältigung und Ankurbelung der Wirtschaft konzipiert wurde. In Bezug auf Produkte bedeutet Obsoleszenz, dass sie für veraltet erklärt werden, seit der Moderne wurde diese Logik auch auf Gebäude übertragen. Sobald der Wert des Grundstücks den Wert des Gebäudes übersteigt, wird ein Neubau attraktiver. Mit der Erkenntnis, dass Ressourcen endlich sind, kommen an dieser Vorgehensweise berechtigte Zweifel auf. Zugleich werden in der Planung aufgrund des wachsenden Bedarfs an (Wohn-)Raum die höhere städtische Dichte und bessere Energieeffizienz von Neubauten gegen veraltete Bauweisen, Strukturen und Nutzungsprogramme in Stellung gebracht – und mit dieser Argumentation bis heute noch Abrisse gerechtfertigt.
Die Autorinnen der vorliegenden Publikation fordern, gut argumentiert und mit Beispielen untermauert, dass Obsoleszenz als Paradigma der Stadtplanung kritisch überdacht werden muss. Dabei greifen sie auf Wissensbestände aus dem Forschungsprojekt Die obsolete Stadt (2020–2023, obsolete-stadt.net) zurück: Am Beispiel der Stadt Hamburg wurden neun Gebäudetypen herausgearbeitet, die durch langfristige Megatrends in den Bereichen Arbeit, Handel, Mobilität und Religiosität aktuell und in naher Zukunft ihre ursprüngliche Funktion verlieren: Supermarkt, Kaufhaus und Einkaufszentrum, Multiplex-Kino, Bürogebäude, Parkhaus und Tankstelle sowie Friedhof und Kirche. Diese sind in allen Städten je nach Lage mehr oder weniger von der Problematik betroffen.
Aus den Forschungsergebnissen werden strukturelle Überlegungen zu Planungskultur, Baunormen und Beteiligungsmodellen abgeleitet. Aus der systematischen Untersuchung beispielhafter Standorte werden Handlungsfelder für urbane Transformationen im Sinne einer gemeinwohlorientierten, klimagerechten und koproduktiven Stadtentwicklung skizziert. Da potenziell von Obsoleszenz betroffene Bauten oft privaten Firmen gehören, die vor allem Renditeerwartungen haben, müssen Planungswerkzeuge entwickelt werden, die die Umnutzung bestehender Bauten auch für Investor:innen attraktiv machen. Als erste Maßnahme wird eine systematische Bestandsaufnahme vorgeschlagen. Mit ausführlichen Beschreibungen, Fotografien und Diagrammen werden die Substanz beispielhafter Objekte analysiert, Größe und Volumen, Bebauungsdichte und Grad der Versiegelung anschaulich gemacht, architektonische und städtische Eigenschaften und die Lage im Stadtgebiet bewertet. Auf Basis dieses übertragbaren Untersuchungsrasters können effiziente Prognosen zu Potenzialen und Risiken erstellt werden.
Die Verschwendung von Materialien, Energie sowie der Ausstoß von CO2 werden immer stärker hinterfragt, zugleich wirken sich gesellschaftliche Transformationsprozesse auf die Struktur der Städte aus. Mit Verweis auf die Ethik der Verantwortung, die bereits in den 1970er Jahren von Lucius Burckhardt gefordert wurde, folgern die Autorinnen, dass sich Planung an Klimagerechtigkeit und Gemeinwohl orientieren muss. Diese Verantwortung gilt theoretisch für alle an der Planung Beteiligten. Dabei wird Architekt:innen häufig die Rolle von Moderator:innen bzw. Übersetzer:innen zugewiesen, die unter anderem darin besteht, die Kuratierung von Programmen im Dialog mit allen Akteur:innen zu übernehmen.
Als Voraussetzung für einen nutzbringenden Umgang mit veralteten Typologien wird es auch nötig, verschiedene Ansätze und Strategien zu stärken. Darunter fallen beispielsweise eine progressive Haltung zum Kulturerbe, die Vereinfachung von Gebäudestandards und die Erstellung neuer Berechnungsmodelle, die die in der Gebäudesubstanz gebundene Energie stärker berücksichtigen als die operationale Energie des Betriebs. Der Transformationsdruck äußert sich nicht nur in der Frage nach neuen Nutzungen für veraltete Typologien, sondern auch in neuen Bedarfen nach gemischten Nutzungen. Auch wenn Umnutzungen aufgrund von nicht passenden Geschosshöhen oder Gebäudetiefen vordergründig Ineffizienzen erzeugen, bieten diese ein großes Potenzial für neue Raumqualitäten und gemischte Funktionalitäten. Neben der Grauen Energie der Gebäudesubstanz wird die Goldene Energie als wichtiger Faktor genannt, mit dem kulturelle und soziale Werte ausgedrückt werden, die sich auch auf die unmittelbare Nachbarschaft des Gebäudes auswirken.
Der Ansatz besteht darin, das Bestehende zu überdenken und neue Sichtweisen zu entwickeln. Dabei wird der Gestaltung von Prozessen viel Aufmerksamkeit geschenkt, vor allem aber wird die obsolete Struktur selbst als Protagonist und nicht als Objekt betrachtet. Zur Veranschaulichung kommt den Fallbeispielen eine besondere Rolle zu. Die Schwarz-weiß-Aufnahmen des Fotografen Wolfgang Thaler von exemplarischen Umbauten beruhen auf genauer Beobachtung und ermöglichen eine Begegnung mit dem neuen Alltag der Gebäude aus verschiedenen Perspektiven. Besonders hervorzuheben ist die Gestaltung des Buch: eine klare Struktur mit diagrammatischen Zeichnungen wird mit grafischen Akzenten und künstlerischen Elementen kombiniert. Auf den ersten Seiten werden die neun Gebäudetypen vorgestellt. Diese werden in ihrer Alltäglichkeit abgebildet, jedoch durch Überlagerungen der Fotos und den Einsatz transparenter Farbflächen zugleich auch zum Schillern gebracht – eine bildliche Metapher für den einerseits sachlich-fundierten, aber auch optimistischen Ton des Buchs. Diese Publikation gibt Hoffnung und tröstet darüber hinweg, dass es aufgrund der verschachtelten Problematik von Kosten, Nutzen und Politik oft schwierig ist, für den Erhalt von Gebäuden zu argumentieren. Die anfangs genannten Beispiele belegen das auf traurige Weise: die Investitionsruine des Luxuskaufhauses auf der Mariahilfer Straße wird vom neuen Investor aktuell bereits wieder abgerissen und beim Haus der Begegnung in der Donaustadt wird die Asbest-Keule geschwungen, damit ja kein Widerspruch gegen den Abriss eines zeitgeschichtlich bedeutenden Gebäudetyps und der Zerstörung eines funktionierenden Sozialraums aufkommt.
Antje Lehn ist Architektin und lehrt an der Akademie der bildenden Künste Wien. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit der Stadt als Wissensraum, der Raumwahrnehmung von jungen Menschen, emanzipatorischen Lernräumen und partizipativen Kartierungsmethoden.