Paula Pfoser


Der ehemalige Autoteileproduzent Ri-Maflow in Florenz, die Officine Zero Fabrik in Rom oder die griechische Bioputzmittelfabrik Vio.me: Sie alle sind – seit 2012 – Betriebe unter ArbeiterInnenselbstverwaltung und zählen damit in Europa zu unternehmerischen Ausnahmeerscheinungen: trotz der langjährigen Krise gibt es nur sehr wenige, oft prekäre Produktionsstätten, die von ArbeiterInnen übernommen wurden –, wie etwa die von Vio.me, der die Räumung droht.
Anders die lage in Argentinien, zwei deutschsprachige Publikationen erzählen davon: Nach zehn Jahren der neoliberalen Umstrukturierung, der Privatisierungen, Kündigungen und Verelendung kommt es zu Beginn des Jahrtausends zum Kollaps. Zahlreiche Unternehmen gehen pleite, melden Kündigungswellen an. Viele der ArbeiterInnen wollen dem drohenden Jobverlust und der Armut nicht länger tatenlos zusehen und widersetzen sich, indem sie sich organisieren. Die Übernahmen gelingen: Zunächst in der Textilfabrik Bruckmann in Buenos Aires, später in vielen weiteren Fabriken und Firmen. Mittlerweile gibt es 311 solcher selbstverwalteter Betriebe in Argentinien, die meisten von ihnen haben Bestand und, so erfährt man, es kommen immer noch neue hinzu. An die 13.500 Arbeitskräfte sind beschäftigt, doppelt so viele wie vor zehn Jahren.
Zum Thema argentinische Betriebsübernahmen sind kürzlich zwei Übersetzungen im deutschsprachigen Raum erschienen. Sin Patrón, Herrenlos. Arbeiten ohne Chefs des politischen (Verlags-)kollektivs Lavaca, herausgegeben und übersetzt von Daniel Kulla und Wir übernehmen. Selbstverwaltete Betriebe in Argentinien von Juan Pablo Hudson, von den Herausgeberinnen und Übersetzerinnen Alix Arnold und Gabriele Schwab. Vielleicht überraschend ist erstere Veröffentlichung: Vorgelegt werden hier zehn ältere Betriebsreportagen. Das Buch wurde in Argentinien bereits 2004 veröffentlicht und dort als erste umfassende Publikation zu selbstverwalteten Betrieben stark rezipiert. Trotz des langen Vorworts von Daniel Kulla eignet sich das Buch deswegen eher als historisches Dokument, das die revolutionäre Aufbruchsstimmung spürbar werden lässt, die in einer Periode spektakulärer Ereignisse um 2001 entstand. Weniger aber liefert es einen aktuellen Blick auf die Entwicklungen und es hält sich auch darin zurück, eine Anleitung für einen deutschen Lernprozess zu sein, wie im Vorwort eigentlich angekündigt: Konkrete Fragen nach Umverteilungsstrukturen oder Arbeitsbedingungen bleiben im Hintergrund. Als leicht zugängliche, vertiefende Lektüre scheint es aber allemal geeignet, auch wenn einem das Vorwort des Bandes eine gewisse Toleranz für die politaktivistische Rhetorik abverlangt, wenn etwa unnötige Spitzen gegen die Regierung Kirchner zu lesen sind.
Wir übernehmen. Selbstverwaltete Betriebe in Argentinien wählt einen anderen Zugang, sowohl zeitlich als auch betreffend der Form: das Buch fokussiert vor allem die aktuellere, durchwachsene Zeit nach den Übernahmen und nähert sich ihrer in einer militanten Untersuchung an, die in einem eindrücklichen, experimentellen Text verpackt wird.
Juan Pablo Hudson stieß erstmals 2004 auf die selbstverwalteten Unternehmen, als er für sein Dissertationsprojekt lange Interviews mit ArbeiterInnen führte und die Vorgänge in den Betrieben beobachtete. Aus dem Forscher wurde schließlich ein langjähriger Begleiter und politischer Aktivist für die Agenden der recuperadas (die besetzten und selbstverwalteten, reaktivierten Betriebe werden empresas recuperadas genannt). Mit Wir übernehmen verlässt Hudson den formellen akademischen Rahmen und versucht stattdessen, »die labyrinthartigen Zick-Zackwege« der Geschichten und der eigenen Untersuchung durch eine vielstimmige Collage zu fassen, die, wie er schreibt, womöglich am besten als »nichtfiktionaler Roman« zu fassen ist: Er verknüpft Geschichten, Reflexion und Analyse, Berichte der ArbeiterInnen und Tagebuchnotizen zum Forschungs- und Schreibprozess. Geleitet ist das Buch durch die Frage, »wie es möglich wäre, ohne geblendet zu werden, die dunklen Ecken zu beleuchten, die bei den Texten, die schließlich in Buchform erscheinen, fast immer außen vor bleiben, sozusagen hinter der Kamera.«
Wir übernehmen erzählt von der gegenwärtigen Situation, den (schwierigen) Arbeits- und Produktionsbedingungen und Vernetzungsversuchungen der selbstverwalteten Betriebe. die ersten Kapitel widmen sich vorrangig der Zusammenarbeit und organisierung zwischen den Unternehmen und ihrer doppelten Abhängigkeit von Markt und Staat. Die Betriebsübernahmen haben, so stellt Hudson fest, keine gänzlich »andere Art von Sprache und anderen politischen Herausforderungen« herausgebildet: Die Unternehmen können kaum auf alternative Netzwerke zugreifen, sondern bewegen sich noch immer fast ausschließlich im global vernetzten Kapitalismus und müssen dort mit Rohstoffpreisschwankungen, lieferproblemen und dem »takt der Nachfrage« umgehen. Die staatlichen Subventionen, die die Betriebe nunmehr erfahren, gewähren eine Basisunterstützung, die zu ihrem Überleben beiträgt. Der finanzielle Fortbestand ist aber nur ein Punkt: Herausfordernd ist, die ArbeiterInnen-Autonomie aufrecht zu erhalten und die Kooperative weiterhin im Sinne des Kooperativismus zu führen – gerade auch im Inneren der Fabriken. Hudson berichtet in den letzten zwei Kapiteln von den Auseinandersetzungen zwischen dem Vorstand und den ArbeiterInnen sowie den befristet Beschäftigten und den Mitgliedern der Kooperative. Er zeigt so, überraschend offen, dass es nicht immer ein leichtes ist, Solidarität und Horizontalität in die Praxis umzusetzen.
Mit Wir übernehmen ist eine packende und literarisch anspruchsvolle Erzählung zum selbstverwalteten Arbeiten in Argentinien gelungen. Das Buch liefert keine eindeutige Antwort, ob die Betriebe kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse unterwandern. Es wirft jedoch, wie der Autor selbst schreibt, »eine Reihe grundlegender Fragen zu den konkreten und materiellen Herausforderungen für die Arbeiterselbstverwaltung in diesem neuen Jahrhundert« auf – und es bereichert mit spannenden Einsichten zum kollaborativen Produzieren.

Anmerkung — 2015 ist eine weitere Publikation zur Thematik erschienen: An Alternative Labour History – Worker Control and Workplace Democracy; Der Einleitungstext von Dario Azzellini ist in einer gekürzten Version in dieser ausgabe von dérive (ab Seite 41) zu lesen. beim urbanize!-festival wird am 3.10. der Film Occupy, Resist, Produce – Vio.Me von Oliver Ressler und Dario Azzellini gezeigt werden, der das Beispiel einer besetzten, selbstverwalteten Fabrik in Thessaloniki zeigt.


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