Raum, Akteure, Praktiken
Besprechung von »Organizational Spaces. Rematerializing the Workaday World« herausgegeben von Alfons van Marrewijk und Dvora YanowWie in den meisten Sozial- und Kulturwissenschaften ist mittlerweile auch in den Organizational Studies – reichlich spät – der spatial turn bemerkbar. Der Aufsatzband Organizational Spaces befasst sich mit den Gründen dafür und mit der Bedeutung des Raums insbesondere für einen qualitativen, ethnographischen, interpretativen Zugang zu Organisationen und Arbeitswelten. Wie der Untertitel deutlich macht, ist diese Raumwende Teil einer Hinwendung der Sozialwissenschaften zur Materialität, die dort lange Zeit eine marginale Rolle gespielt hat, selbst wenn zumindest die Ethnographie nie von der materiellen Welt abstrahieren konnte. Das Spektrum neuer Ansätze reicht dabei von der Medialität des Materiellen bis zu Latour und anderen, die den Artefakten Akteursrollen zuschreiben. Welch große Bedeutung der Raum im Arbeitsalltag besitzt, wird unmittelbar einsichtig in einer im Band zitierten ethnographischen Studie von Timothy Pachirat über Schlachthöfe im Mittleren Westen: Der Autor erforschte dieses Setting undercover und arbeitete dort zunächst als Treiber auf dem unübersichtlichen, immer nur kleine Ausschnitte des Raums zugänglich machenden kill floor, bevor er zum Qualitätsmanager befördert wurde und nun auf Laufstegen oberhalb buchstäblich den weiten Überblick gewann. Der Band untersucht drei Aspekte des Räumlichen für Organisationen: Erstens den Einfluss räumlicher Anordnungen und Umordnungen auf die Handlungen von MitarbeiterInnen und KundInnen; zweitens die historischen und kulturellen Spezifika der Raumproduktion, basierend auf der eigenen Raumerfahrung von AutorInnen; und drittens die repräsentationalen Aspekte von Organisationsräumen.
Dale und Burrell befassen sich mit Raum als (angenommener) agent of change, als Katalysator für Veränderungen in den Handlungen, die in ihm vorgenommen werden: Viele Unternehmen versuchen mithilfe des Arbeitsraums Gemeinschaft unter ihren Angestellten zu stiften oder ihre Gemeinschaftsorientierung zu versinnbildlichen. Die beiden AutorInnen unterscheiden dabei zwischen »soziopetalen« und »soziofugalen« Räumen, also solchen, in denen sich Menschen versammeln, und solchen, durch die sie sich hindurchbewegen. Iedema, Long und Carroll untersuchen die Auswirkung einer Gangnische in einem Krankenhaus auf die Kommunikation der dort Arbeitenden. Sie fanden, dass die »Schwellenhaftigkeit« dieser Nische Kommunikation ermöglicht, die informeller ist, das Zugeben von Fehlern und Unwissenheit erlaubt, die Bedeutung von Hierarchien reduziert und somit zur Sicherheit der PatientInnen beiträgt. Sie nennen diesen Ort einen generativen Raum. Kenis, Kruyen und Baaijens untersuchten die Auswirkungen eines neuen niederländischen Gefängniskonzepts auf das Verhalten der Gefangenen und der Wärter: Das Gefängnis war als technologisch unterstütztes Panopticon geplant, um so den Arbeitsaufwand für die Wärter zu reduzieren. Umfassende Überwachungstechnologie und technologische Hilfsmittel, um die Eigenverantwortung der Gefangenen zu steigern, sollten die notwendige Interaktion zwischen Gefangenen und Wärtern verringern. Tatsächlich führte das neue Gefängnis jedoch auf beiden Seiten zu kreativerem Handeln in einem nicht-kreativen Umfeld.
Gastelaars untersuchte die organisationsbezogenen Auswirkungen eines Universitätsgebäudes auf seine BenützerInnen anhand der »6 S« von Stewart Brand, das heißt der sechs Konzepte, die das Gebäude und seine Wirkung ausmachen: Standort, Fassade, Struktur, Grundriss, Ausstattung und Services. Sie stellt ein breites Spektrum an möglicherweise beabsichtigten und sicherlich nicht beabsichtigten Effekten fest und schließt mit der Bemerkung, dass Argumente und Erwartungen, die sich auf Auswirkungen des Raums beziehen, wohl oft fehlgingen, aber jedenfalls ein besonders interessantes Forschungsfeld ausmachen würden. Van Marrewijk untersucht die körperliche Erfahrung, die er als Mitarbeiter im Laufe von Jahrzehnten in mehreren Gebäuden des niederländischen Telekomkonzerns KPN machte, und wie der Eindruck dieser Gebäude mit der jeweiligen Situation des Konzerns zusammenhing. Und Weir befasst sich mit Entscheidungsmustern im Diwan, um festzustellen, dass es sich dabei nicht nur um einen Raum, sondern auch um bestimmte Management- und Mitarbeiterverhaltensweisen handelt, die von der räumlichen Gestaltung beeinflusst sind. Schließlich analysiert Yanow die geringe Bedeutung des Raums in der Organisationsethnographie und welche methodologischen Schlüsse aus einer stärkeren Integration des Raums zu ziehen wären. Anhand des Beispiels von besonders hoch gehängten Posters im Eingangsbereich
eines Community Centers in Tel Aviv erläutert sie, wie die Einbeziehung von Raum unmittelbar mit der Einbeziehung des Körpers in die Forschungsperspektive einher geht. Dies ebenso wie die Aus-richtung gegenwärtiger Wissenschaft auf die Sprache sei Ursache für die Raumvergessenheit der Forschung. Allerdings stellen Raum und Körper für die etablierte Wissenschaft eine ähnliche Herausforderung dar wie interpretative empirische Forschung – das heißt, »Raum zu sprechen« ist nur ein Schritt weg vom Ignorieren räumlicher Diskurse; noch wichtiger ist es dafür, das verbreitete Verständnis von Wissenschaft herauszufordern.
Den Abschluss des Bandes bilden ein Beitrag von Mobach über virtuelle Welten als Kommunikationswerkzeug zwischen ManagerInnen und ArchitektInnen sowie einer von Panayiotou und Kafiris über Unternehmen im Film und insbesondere die symbolische Bedeutung, die Türen und Fenster dort besitzen. Das Nachwort von Kreiner befasst sich mit der Frage, wie Räume von als gegeben angesehenen Tatsachen zu beachtenswerten Anliegen werden könnten. Wie die Planung von Organisationen ist auch die Planung von Räumen mit unvorhersehbaren Veränderungen durch die AkteurInnen konfrontiert, die erst ihr Funktionieren im Alltag erlauben. Diese supplements machen Organisationen wie Räume lebensfähig. Insofern sollten Räume niemals isoliert betrachtet werden, sondern immer als Teil einer Totalität. Die Nutzung von Raumangeboten steht stets in direktem Zusammenhang mit Rollen, Projekten und Handlungsverläufen der AkteurInnen. In diesem Sinne sei Raum Ressource, Motivation und Inspiration (und auch Beschränkung und Bedingung, muss wohl hinzugefügt werden), aber keine Determination.
Der Band ist im Spektrum dessen, was der spatial turn initiiert hat, besonders
interessant, weil er empirische Zugänge zum Thema versammelt und dabei ins-besondere (auch unter ArchitektInnen und anderen PlanerInnen) weitverbreitete Erwartungen an eine Wirksamkeit des Raumes kritisch untersucht. Raum wird von vielen Akteur-Innen in den analysierten Settings als Werkzeug für Organisationsentwicklung, -veränderung, -ausdruck verstanden. Dabei wird jedoch häufig der enge Zusammenhang mit (anderen) AkteurInnen vergessen. Wenn man also Raum erforscht und Raum berücksichtigt, darf man keinesfalls übersehen, AkteurInnen, Praktiken und Dinge mit einzubeziehen, ist der Schluss, den man aus diesem Band ziehen kann.
Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.