» Texte / Räume und Prekaritäten in der Kulturökonomie: Gibt es da einen Zusammenhang?

Oliver Frey


Spätestens seit Tony Blair Mitte der 1990er Jahre mit Cool Britannia die „Kulturökonomie“, die „Kreativwirtschaft“ oder die „Cultural Industries“ mit ihren flexiblen und eigenverantwortlichen Arbeitsformen entdeckte, um den Umbau des Sozialstaates positiv auszuschmücken, ist der Typus der „Kreativ-UnternehmerInnen“ in aller Munde. Man traut ihnen zu, allein durch den Einsatz der eigenen Kreativität auch prekäre ökonomische Phasen ohne staatliche Unterstützung durchzustehen. Seither wurden sie oft politisch instrumentalisiert, modisch überhöht oder als irrelevant marginalisiert. Auch die Wissenschaft entzieht sich nicht der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Georg Franck) und versucht, dieses Phänomen des gesellschaftlichen Wandels in der postfordistischen Ökonomie zu beschreiben, zu analysieren, und schließlich die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Jüngst sind dazu zwei Bücher erschienen, die beide die Situation in Berlin untersuchen: Eine soziologische Studie zur Internetbranche von Alexandra Manske und eine kulturgeographische Dissertation von Bastian Lange zu kreativen Szenen und ihren Orten. Beide Studien behandeln die Arbeits- und Lebensbedingungen, insbesondere die Unternehmensgründungen von jungen kreativen AkteurInnen, anhand einer umfangreichen qualitativ heuristischen Fallrekonstruktion zahlreicher Interviews mit AkteurInnen der Berliner Kreativwirtschaft. Lange schreibt dazu zusammenfassend: „Die Lebens- und Arbeitswelt in der Kreativwirtschaft setzt sich aus einem Amalgam von selbstcharismatisierenden Beschreibungen (kreativ!), faktisch prekären Existenzbedingungen (Flexibilität!), zugleich aber hohem gesellschaftlichem Status und Prestige (Pioniere!) zusammen.“

Die soziologische Arbeit von Manske ist in die Theorien zur sozialen Ungleichheit eingebettet und entwickelt die These, dass „prekäre Lebenslagen nicht nur ein Phänomen marginalisierter Gruppen“ sind, sondern dass auch hochqualifizierte UnternehmerInnen in der Internetbranche von gesellschaftlichem Abstieg bedroht sind: „Denn die Befunde zeigen, welch hoher Ressourcenausstattung es bedarf, um das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und sozialer Deklassierung unter radikal marktvermittelten Bedingungen zu gestalten.“ Kämpft man sich durch den soziologischen Sprachduktus der Thesen durch, dann wird sehr wohl deutlich, was die Autorin mit der Arbeit sagen will: Sie weist darauf hin, dass die klassischen Merkmale sozialer Ungleichheit (Ausbildung, Einkommen, Nationalität, Geschlecht) für eine Analyse der heutigen (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft um „soziopolitische“ und „soziokulturelle“ Merkmale erweitert werden müssen. Trotz einer materiell unsicheren Lage zeigen die Befragten einen hohen Zeit- und Kapitalaufwand, um eine Position in der Erwerbsgesellschaft zu finden und eigenverantwortlich und darüber hinaus selbstbestimmt ihre gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen. Die zentrale Frage des Buches ist, ob die subjektiv konstruierten Freiheitsräume der KreativunternehmerInnen ihre objektive soziale Lage in der ökonomischen Prekarität ausgleichen können. Die Unterscheidung in „UnternehmerIn“, „DienstleisterIn“ und „KünstlerIn“ dient dazu, die jeweils spezifischen Bearbeitungspotenziale ihrer sozialen Lage zu differenzieren: Die differenzierten Praxisformen machen deutlich, dass es umfangreicher Geldmittel und hoher zeitlicher Flexibilität bedarf, um eine tiefgreifende Unsicherheit nicht nur aushalten, sondern individuell gestalten zu können.

Die geographische Arbeit von Bastian Lange ist in die Theorien zur Raumsoziologie von Martina Löw eingebettet, die als Grundlage zur Konstitution von Räumen eine subjektorientierte Handlung der AkteurInnen ansieht, welche über sozial differenzierte Praktiken vermittelt werden. Die zentrale Fragestellung des Buches konzentriert sich daher darauf, wie sich die sozialen Räume und Orte der Kreativszenen in Berlin konstituieren. Die Antwort, die man findet, ist einer akteurszentrierten kulturalistischen Sichtweise zuzuordnen: Die einzelnen handelnden Subjekte, miteinander in einer Szene relational verknüpft, produzieren als „kulturelle UnternehmerInnen“ und als „ErzählerInnen“ die Räume. Als Praktiken dieser Raumproduktion werden die sozialen Prozesse des „Auftauchens und Verbergens“ im Sinne einer Aufmerksamkeitsproduktion beschrieben: „Phasieren“ als subtile Ausgrenzungsstrategie, „Umprogrammieren“ als Ortsaneignung, „Verdichten“ durch Feierkulturen und „Testen“ als Experimentieren mit Stilen und Verfahren. Die Sichtweise auf die Raumproduktion bleibt nicht beim Individuum stehen, sondern wird als eine „Vergemeinschaftung“ im Raum interpretiert, welche über soziale Netzwerke, Milieus und Szenen vermittelt wird. Eine ausführliche Debatte über diese drei Konzepte führt schließlich zu der Aussage, dass „Szenen, im Unterschied zu sozialen Milieus, aber als Strukturformation, die in ihrer Strukturierungskraft das Tempo von sozialen Vergemeinschaftungen zu erhöhen im Stande ist“, als Begriff die empirisch erhobenen und rekonstruierten Fallmerkmale adäquater und plausibler erklären.

Wer sich mit der Frage nach den Ausprägungen und Konstitutionsprozessen „kreativer Milieus in der Stadt“ beschäftigen will, sollte beide Bücher lesen, denn: Mit der These von der Prekarisierung auf hohem Niveau in der Kreativwirtschaft wird eine analytische Sichtweise auf Umstrukturierungen der Arbeits- und Lebenswelt vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Ungleichheiten entwickelt. Dabei wird deutlich, wie sehr die AkteurInnen der Kreativwirtschaft die strukturellen Unsicherheiten des Marktes in die subjektiven Eigenlogiken einverleibt haben. Dieser Aspekt des soziostrukturellen Wandels von Gesellschaft und Arbeit fehlt in der anderen Studie. Bei Alexandra Manske führt die soziologische Raumblindheit aber dazu, dass den Orten des prekären Arbeitens in der Stadt keine Aufmerksamkeit zuteil wird. Das Verdienst von Bastian Lange über Die Räume der Kreativszenen. Culturepreneures und ihre Orte in Berlin zu schreiben, liegt darin, die räumliche Strukturiertheit sozialer Prozesse in der städtischen Kreativwirtschaft deutlich zu machen. Was allerdings verwundert, ist, dass die Studie gänzlich ohne die umfassende stadtsoziologische Literatur zum sozioökonomischen Wandel von Orten und Nachbarschaften auskommt. Kein einziges Mal fällt der Begriff „Gentrification“ und so kann der sozioökonomische Wandel der städtischen Strukturen nicht adäquat analysiert werden. Die Sichtweise, dass ein „kreativer Ort“ in der Stadt nicht nur durch Individuen und Szenen konstituiert wird, sondern auch durch ökonomische Prozesse des entfesselten Kapitalismus als auch durch politische Entscheidungen in der räumlichen Struktur der Stadt bedroht sein kann, wird nicht thematisiert.

Beide Bücher sind eher an die scientific community gerichtet, sie geben leider kaum Antworten für die praktische Stadtpolitik, wie diese durch Instrumente und Methoden der Stadtplanung oder Wirtschaftsförderung diese neuen räumlichen und ökonomischen Prozesse unterstützen, fördern oder steuern kann.


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