Stadtbild und Berufsbild
Reflexionen zur Kurzen Nacht der StadterneuerungAls unsere koreanischen Gaststudierenden im Rahmen der Entwurfsübung mit dem Thema »Stadterneuerung« konfrontiert wurden, waren sie sich der Stadt und der Sprache noch nicht sicher. Ihre erste Rückfrage war, ob sie ganz Ottakring (Bezirk in Wien, Anm.) neu planen sollen. Sie gingen offensichtlich mit größtem Selbstverständnis davon aus, dass das alte gründerzeitliche Ottakring flächendeckend geschleift werden würde, um einer besseren Zukunft nicht länger im Wege zu stehen.
Es ist auf dieser Welt nicht selbstverständlich, dass städtebaulicher Altbestand behutsam repariert, transformiert und kontinuierlich aktualisiert wird. (In Wien gibt es seit 30 Jahren »sanfte Stadterneuerung« – selbstverständlich ist sie auch hier immer noch nicht.) Es sind aber gerade solche Transformationsprozesse, durch die städtische Strukturen wechselnden Bedürfnissen angepasst werden können, ohne dass diese ihre kulturellen Werte, mit denen sie im Laufe der historischen Entwicklung angereichert wurden, völlig zu verlieren. Es sind wohl genau diese Überformungsprozesse, die vielschichtige und mehrdeutige urbane Qualitäten generieren und Städte irgendwann zum Weltkulturerbe machen. Natürlich braucht eine Stadt auch baukünstlerisch erstklassige Ausnahmearchitektur. Die Architektur der Einzelobjekte wäre aber völlig überfordert, wenn sie jene Qualitätsdefizite kompensieren müsste, die durch eine falsche Stadtentwicklung verursacht werden.
Ottakring ist zum Glück noch nicht Weltkulturerbe. Der gründerzeitlichen Stadt müssen noch einige Transformationen zugemutet werden, um jene Komplexität zu erreichen, die ältere europäische Stadtsysteme aufweisen. Die »sanfte Stadterneuerung« Wiens ist diesbezüglich best practice. Hier hat man gelernt, dass es nicht nur um die bauliche Sanierung alter Zinskasernen geht, sondern dass die Stadt primär als soziale Konstruktion begriffen und auch als solche saniert werden muss.
Grundlage dieses Entwerfens war eine kritische Analyse der aktuellen Situation. Was sind die Stärken und Schwächen, die Entwicklungspotenziale und die Entwicklungshemmnisse eines gründerzeitlichen Stadtsystems? Welche Systemeigenschaften sind immanent, welche können korrigiert werden? Wie ist das Verhältnis zwischen den baulich-räumlichen Strukturen und den darin ablaufenden Lebensprozessen? Welche Angebote kann diese Stadt der Blockraster und Zinskasernen den nächsten Generationen noch machen? Etc.
Das eine Ziel des Unternehmens war also, die Stadterneuerung mit neuen, durchaus auch provokanten Zukunftsszenarien zu konfrontieren. Das andere – didaktische – Ziel war es, die etablierten Berufsbilder der Stadtplanung und der Architektur zu hinterfragen. Lässt sich das Entwerfen vor den Ergebnissen unserer Analysen auf den klassischen architektonischen Entwurf reduzieren? Braucht es nicht mindestens ebenso das Entwerfen von neuen situationsspezifischen Methoden, Instrumenten und Strategien? Geht es nicht längst mehr um das Design von komplexen Entwicklungsprozessen als um die Gestaltung starrer Stadtbilder? Braucht es nicht eine Planung auf jener Metaebene, auf der erst von Fall zu Fall entschieden werden muss, ob die Lösung mit architektonischen, rechtlichen, politischen oder aktionistischen Mitteln erreicht werden kann? Braucht es nicht dort, wo die bestehenden räumlichen Verhältnisse für bestimmte Entwicklungen zu restriktiv geworden sind und wo daher konventionelle architektonische Entwürfe versagen müssen, andere Lösungswege, zum Beispiel den Entwurf neuer temporärer Nutzungsszenarien? Sollten PlanerInnen in diesem Sinn nicht auch in der Lage sein, neben Grundrissen auch urbane Dramaturgien und Zeitregien zu entwerfen?
Beispiele
Die Gruppe »16er-Blick« hatte sich einige Wochen lang in einem leerstehenden Geschäftslokal eingenistet. Die über dem Geschäftslokal verblasste Aufschrift »Second Hand Shop« wurde mit konzeptioneller Konsequenz und mit wenigen Handgriffen einem Recycling unterzogen und in die Aufschrift »Second Hand City« verwandelt. Innerhalb weniger Tage hatte sich dann im Bezirk eine neue Adresse etabliert, ein signifikanter Ort voll Esprit und Aufbruchstimmung. Ein Supermarkt-Einkaufswagen wurde mit wenigen radikal minimalistischen Handgriffen in einen perfekt funktionierenden fahrbaren Griller verwandelt, so wie auch der von Unkraut überwachsene Innenhof in einen vitalen urbanen Treffpunkt. Neue Bilder, neue Gerüche, neue Bekanntschaften, neues Leben im alten Gemäuer. Am Ende der Aktion wurde »der Lokal« verliehen, ein Preis für das originellste Nutzungskonzept für ein leerstehendes Geschäftslokal. Der Preis war das kostenlose Nutzungsrecht des Lokals auf die Dauer von zwei Jahren. Ein Ort ist erfolgreich transformiert, neue Urbanität generiert worden. Der »16er-Blick« schweift weiter.
Die Gruppe »In/Out« parkte statt Autos temporäre Gärten und Minimal-Spielplätze am Straßenrand. Bilder des Privaten und des Öffentlichen begannen sich zu durchdringen und zu überlagern. Irritationen, voll Witz und subversiver Provokation. Die Frage »Was ist erlaubt?« bestimmte die Versuchsanordnungen. Auch die Verkehrspolizei stellte sich bald diese Frage. Wieso soll es nicht erlaubt sein, einen temporären Garten am Straßenrand zu parken, wenn es sehr wohl erlaubt ist, den temporären Garten auf der Ladefläche eines geparkten Kraftfahrzeuges zu positionieren? »Was ist (denk-)möglich?« hieß die nächste Versuchsanordnung. Der Raster der Stadt wurde zum Spielfeld, auf dem die Spieler ihre Kreativität freisetzten und verblüffende Züge gegen die Widerstände des Gewohnten fanden. »Und wir begriffen: Das Spielfeld ist nun einmal nicht zu ändern, sehr wohl aber die Spielregeln.«
Die Gruppe »GR_NE Bauten« simulierte ein ähnliches Spiel mit Fokus auf die Gebäudetypologien der gründerzeitlichen Stadt. Sie führte den Nachweis, dass die alten Zinskasernen durch ihre simple konstruktive Grundstruktur und durch ihre großzügigen Raumhöhen über wesentlich höhere Nutzungspotenziale verfügen, als aktuelle Neubauten. Die innerhalb der baulichen Strukturen ablaufenden Lebensprozesse wurden durch Projektion sichtbar gemacht, die unterschiedlichen Veränderungs- und Anpassungsdynamiken wurden im Zeitraffer augenfällig. Die Gebäudestrukturen wurden als limitierende Faktoren für urbane Selbstorganisations- und Selbstregulationsprozesse, einmal als Voraussetzung, einmal als Verhinderung von Urbanität identifizierbar.
Die Gruppe »Wohnkult« illustrierte diese profunde Kritik modellhaft. Viele penibel gebaute Modelle bewiesen, dass in die simplen Regalstrukturen der gründerzeitlichen Bebauung unendlich viele Alltagskulturen und Nutzungsszenarien eingelagert werden können. Zwei in unmittelbarer räumlicher Konfrontation inszenierte 1:1 – Modelle waren an Sinnlichkeit und Argumentationskraft nicht mehr zu übertreffen: das »Ottakringer-Modell« und das »Korea-Modell«. Wohnkult eben.
Den nächsten konzeptionell radikalen Schritt realisierte die Gruppe »rent your space«. Ihr Ziel war die forcierte Verflüssigung des Raumes. Zähe Prozesse sollten entscheidend beschleunigt werden. Die Akteure gründeten ein Unternehmen, das die temporäre Nutzung von leerstehenden Räumen, vor allem von leerstehenden Erdgeschoßlokalen und von brachliegenden Teilbereichen öffentlicher Freiflächen, organisiert. Das intelligente Modell des Car Sharings wurde zur Stadtentwicklungsstrategie erweitert. Auf diesem Weg wird die Stadt plötzlich zum gangbaren Terrain für unternehmerische Nomaden. Nutzungen wechseln im Stundentakt. SMS genügt, schon kann man sich einen Raum aneignen, um ihn nach wenigen Aktionen und der Ausschöpfung seiner spezifischen Ressourcen sofort wieder verlassen zu können. Unternehmerisches Risiko wird minimiert, minimale Investitionen werden mobilisiert. Das urbanistische Schachspiel der Gruppe »In/Out« wird hier zum Blitzschach. Der Pulsschlag der alten Stadt beschleunigt sich signifikant.
Es wäre nicht möglich gewesen, die hier rückblickend skizzierten Konzepte adäquat auf Plänen darzustellen und mit exakten Balkendiagrammen zu illustrieren. Der Rausch der kurzen Nacht musste vor Ort und in Echtzeit gelebt werden. Diejenigen, die dabei waren, wissen warum. Auch diejenigen, die nicht dabei waren, sind eingeladen, die Ideen aufzugreifen und weiter zu tragen – am besten bis nach Korea.
Erich Raith
Michael Surböck