Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


Bei aktuellen Debatten über Stadtflucht und Zersiedelung, Infrastrukturkosten und Speckgürtel gibt es stets einen unumgehbaren, scheinbar absolute Faktizität beanspruchenden Punkt: den Wunsch der großen Mehrheit nach dem Wohnen im Einfamilienhaus. Stadtflucht wird gewöhnlich als „Abstimmung mit den Füßen“ gegen die urbane Lebensweise und für ein „Wohnen im Grünen“ in der Suburbanität nach amerikanischen Vorbild interpretiert, insbesondere bei einer Zielgruppe, der Meinungsführerschaft zugestanden wird: junge, gut ausgebildete StadtbewohnerInnen, die es in dem Augenblick, wo sie zur Kleinfamilie mit Kindern werden, blitzartig an den Stadtrand zieht.

Zu diesem Thema bietet eine kleine Untersuchung, die im Rahmen des Projektes „Entwicklung urbaner Prototypen – Realisierungsstudie Bodenseestadt“ von einem Soziologenteam in Kooperation mit Städtebauern durchgeführt wurde, neue Indizien. Ergänzend zur primär städtebaulich und architektonisch orientierten Projektgruppe „Bodenseestadt“ an den FHs Konstanz und St. Gallen und der Züricher Hochschule Winterthur, die seit fast zehn Jahren tätig ist und aktuell an für die Region erstrebenswerten Typologien in Alternative zum Einfamilienhaus arbeitet, sollten heutige Wohnorientierungen soziologisch analysiert werden. Es war also zu klären, was genau das Wesentliche am suburbanen Wohnen ist, das die Menschen suchen: ist es die Möglichkeit der Gartennutzung, die Autonomie oder etwas ganz anderes? 2003 und 2004 wurden dafür insgesamt zwölf „Fälle“ untersucht: Haushalte mit und ohne Kindern, in Einfamilienhäusern und in der Innenstadt, im deutschen, schweizerischen und österreichischen Bodenseeraum. Die angewandte Methode war das qualitative, leitfadenbasierte Interview, ergänzt durch die so genannte „fotogeleitete Hervorlockung“, also den Einsatz von Fotografien, um die Subjektivität der befragten Personen „freizusetzen“. Dazu wurden die Interviewten gebeten, wertende Fotos von ihrer eigenen Wohnsituation zu machen, und es wurden ihnen Fotos von anderen Wohnstrukturen zur Bewertung vorgelegt. Auf Basis des Interviewmaterials konnte man das Spektrum an erhobenen Wohnpräferenzen erschließen sowie „Wohnorientierungstypen“ bilden.

Die in den Interviews auftauchenden Vorlieben, die mit dem Wohnen in Zusammenhang stehen, teilte man anhand dreier Maßstabsgrößen ein: das einzelne Wohnobjekt, die Lage sowie die Nachbarschaft. Bezüglich des Einzelobjektes ging es um die verfügbare Wohnfläche und die Art der Räume, um die funktionale Offenheit, um emotionale Wirkung, die Bebauungsdichte, um Ausblicke, um Möglichkeiten der gestalterischen Aneignung und um nutzbare Außenflächen. Zum Thema Lage tauchten die Kategorien Erreichbarkeit alltäglicher Infrastruktur, Nähe zum städtischen Leben bzw. zur Landschaft und Ungestörtheit auf. Und zum Thema Nachbarschaft ging es um die Identifikation mit Dorfgemeinschaft bzw. Stadtgesellschaft, um die Zusammensetzung der Nachbarschaft, um Anonymität und Distanz sowie um nachbarschaftliche Gemeinschaft.

Zu all diesen Dimensionen gab es sehr unterschiedliche Positionierungen seitens der Interviewten. Auf Basis dieser Positionierungen wurden vier „Typen der Wohnorientierung“ gebildet. Der erste unter dem Titel „Wohnen als Reproduktion“ steht unter dem Motto „Ich brauch‘ Ruhe…“. Hier geht es um Störungsfreiheit und Erholung, demnach zeichnet sich der Typus durch Rückzugsorientierung in Bezug auf den sozialen Raum und Gebrauchswertorientierung in Bezug auf den materiellen Raum aus. Der zweite Typus versteht Wohnen als Selbstverwirklichung und aktive Beschäftigung – vorrangig hinsichtlich des materiellen Raumes, während beim sozialen Raum auch die Rückzugsorientierung im Vordergrund steht. Der dritte Typus versteht Wohnen als Sozialarrangement, für ihn ist Wohnen ein kommunikativer Prozess – hier steht, wie bei Typus 1, beim materiellen Raum die Gebrauchswertorientierung im Vordergrund, während beim sozialen Raum im Gegensatz dazu Öffnungsorientierung vorhanden ist. Der vierte und letzte Typus sieht Wohnen als Identifikation, als Zugehörigkeit zu einem sozialen und baulichen Raum. Es geht beim Bezug zum sozialen Raum jedoch vorrangig um Identifikation, nicht so sehr um direkte Kommunikation. Der Typus ist demnach rückzugsorientiert beim sozialen Raum und erlebnisorientiert beim materiellen Raum.

Die Studie ist qualitativ angelegt und erhebt demnach keinen Anspruch auf Generalisierbarkeit. Trotzdem destillierten die Autoren aus den Ergebnissen einige Thesen, die für die stadt- und raumplanerische Praxis von Bedeutung sind. Aus planerischer Perspektive ist es etwa wichtig, dass die Erlebnisorientierung vieler Menschen in Bezug auf Bauten ästhetische und atmosphärische Aspekte in den Vordergrund bringt, wobei sich gleichzeitig das Problem stellt, dass die zunehmende Individualisierung das Spektrum dessen, was unter „schön“ verstanden wird, immer mehr vergrößert. Andererseits bedeutet eine familiäre Lebensform meist, dass der funktionale Gebrauchswert beim Wohnen in den Vordergrund gestellt wird – worunter oft insbesondere Flexibilität zu verstehen ist. Gerade bei allein lebenden InnenstadtbewohnerInnen lässt sich zunehmend ein neuer Wunsch nach Kollektivitäten feststellen; jedoch nicht mit irgendwem, sondern mit Menschen in kompatiblen Lebensphasen und aus kompatiblen Milieus. Interessant ist schließlich, dass die heutigen „Suburbaniten“ oft den Wunsch nach der scheinbar typisch städtischen „unvollständigen Integration“ zeigen – also zu einer sehr weitgehenden Kontaktaufnahme, von der man sich jedoch weitgehend wieder zurückziehen kann, ohne der für den ländlichen Raum typischen dichten sozialen Kontrolle zu unterliegen. Diese „Suburbaniten“ wurden meist städtisch sozialisiert und besitzen deshalb eine Abneigung gegen eine solche starke Kontrolle, können andererseits das Private als Ort der „familiären Intimgemeinschaft“ pflegen, weil sie in geringerem Ausmaß als die Städter von neuen Haushaltsformen geprägt sind, und trennen daher strikt zwischen öffentlicher und privater Sphäre.

Die Ergebnisse zeigen bei Einfamilienhaus-bewohnerInnen eine städtische Lebensweise, die nicht in der Stadt praktiziert wird. Interessant ist auch, dass das Einfamilienhaus mit eigenem Grundstück nicht so sehr als Ort der Selbstverwirklichung verstanden wird – die üblichen ideologischen Verklärungen des freistehenden Wohnhauses besaßen in den Interviews keine Bedeutung. Dem entsprechend können sich viele „Suburbaniten“, die ja oft städtisch sozialisiert sind, auch wieder einen Rück-Umzug in die Stadt vorstellen. Die Stadtflucht ist kein ideologisches Prinzip mehr, sondern eine Frage, die sich in Abhängigkeit von der Größe, Qualität und den Kosten des Wohnungsangebots entscheidet. In Bezug auf die Frage, ob man EinfamilienhausbewohnerInnen dazu bewegen kann, in die Stadt (zurück) zu kommen, stellen die Autoren fest: „Zu suchen ist nach […] Modellen, die im innerstädtischen Bereich sowohl der Gebrauchsorientierung im Hinblick auf den materiellen Raum als auch bezüglich des sozialen Raumes der Rückzugsorientier-ung […] Rechnung tragen.“ Als Beispiel da-für, wie die Ergebnisse konkret angewandt werden können, bewerten die Autoren schließlich eine Reihe von Wohnbaupro-jekten anhand der aufgefundenen Dimensionen und ihrer Eignung für den Typ 1, also den (eventuell rückkehrwilligen) „Suburbaniten“, und zwar die „Immeubles Villas“ von Le Corbusier, die Siedlung Halen von Atelier 5 sowie „SocióPolis“ von MVRDV.

Die qualitative Studie und ihre Bezug-nah-me auf aktuelle planerische Fragen führen zu überaus interessanten Ergebnissen. Sinn-voll wäre weitere Forschung auf Basis dieser Ergebnisse mit größeren Samples, um die Resultate generalisierbar zu machen.


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