Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Nach der Ära Stalin setzte in der UdSSR unter Chruschtschow das Tauwetter ein, das über allerlei Umwege schließlich zur Perestroika unter Gorbatschow führen sollte. Die im Wandel begriffene politische Wetterlage brachte auch eine veränderte und von oben verordnete Doktrin für die Disziplinen Städtebau und Architektur mit sich. Man verwarf den »sozialistischen Klassizismus«, der unter Stalin vorgeherrscht hatte und einst den Konstruktivismus abgelöst hatte, der im Westen Furore gemacht hatte. Mitte der 1950er Jahre etablierte sich still, aber nachdrücklich eine sowjetische Moderne, die bis zur Auflösung der Sowjetunion prägend bleiben sollte. Westliche ArchitekturhistorikerInnen haben bisher diese andere Moderne stiefmütterlich behandelt, wie eine unliebsame Verwandtschaft in einer unwirtlichen, unzugänglichen Landschaft. Nachdem die Nebelschwaden langsam verzogen sind und ein geradezu romantisierender Blick auf die ehemalige Schattenseite der Ära des Kalten Kriegs geworfen wird, ist nun auch diese vergessene Moderne ins Bewusstsein gerückt. Eine ForscherInnengruppe des Wiener Architekturzentrums hat sich in den letzten Jahren dieser Thematik gewidmet – glücklicherweise unter Einbeziehung von ForscherInnen und ZeitzeugInnen aus den damaligen Teilrepubliken. Der diesjährige Architekturkongress Sowjetmoderne 1955–1991. Unbekannte Geschichten, der am 24. und 25. November 2012 stattfand, und die gleich betitelte Ausstellung im Az W, die noch bis zum 25. Februar 2013 zu sehen ist, markieren eine erste öffentliche Präsentation dieser umfassenden Recherchearbeit. Der Architekturkongress versammelte Referate der beteiligten Forscher und Forscherinnen und war als Vertiefung und Erläuterung des in der Ausstellung gezeigten Materials konzipiert.

DIE FORM DER AUSSTELLUNG
Die Ausstellung ist in drei Ebenen strukturiert. Die ehemaligen Teilrepubliken sind mit Beispielsammlungen hervor­stechender Architekturprojekte vertreten. Es dominieren foto­grafische Dokumente, Pläne und Hintergrundinformationen sind rar, wahrscheinlich auch auf Grund der Fülle der Objekte. Im Vordergrund stehen Einzelgebäude, städtebauliche Entwürfe sind unterrepräsentiert. Eine zweite Ebene bilden Filme mit Interviews, die mit Zeitzeugen und ForscherInnen vor Ort gemacht wurden. Es handelt sich hier um eine oral history, die auf Grund des hohen Alters mancher InterviewpartnerInnen einen wichtigen Beitrag liefert. Die dritte Ebene bilden thematische – meist typologische – Vertiefungen, die etwa Bauten für die »politische Bildung«, für den »Winterzirkus«, Pionierpaläste oder Bauten für die Jugend etc. im Fokus haben, aber auch Stadträume der damals neuen, sozialis­tischen Stadt.

STAUNEN
Vorgestellt wird eine auffällig vielfältige Moderne, die nicht in Reinkultur auftritt, sondern von Litauen bis zum Kaukasus vielfach gebrochen und in Vermengung mit lokalen Traditionen in Erscheinung tritt. Die Absorptionsfähigkeit anderer, meist vor Ort vorgefundener Bautraditionen, die diese Moderne auch auszuzeichnen scheint, ist ein bereicherndes Thema und impliziert zukünftige Forschungsfragen, die sich bisher in dieser Form nicht gestellt haben. Zuallererst setzt beim Durchstreifen der Ausstellung aber ein Staunen ein, dem man sich nur schwer entziehen kann. Man begegnet einer Vielzahl überaus interessanter Architekturobjekte. Es sind lookalikes, verloren geglaubte Zwillingsschwestern, Alvar-Aalto-Inkarnationen, Asplund-Varianten, Mies-van-der-Rohe- und Le-Corbusier-Kreuzungen, aufregende Glasarchitektur und verwirklichte brutalistische Betonphantasmen, die den spät-existentialistischen Architektur-Aficionado westlicher Prägung in Rührung versetzen können. Hinter dieser romantischen Verklärung, die sich allzu schnell einstellt, wird aber auch spontan etwas Stichhaltigeres sichtbar: Es wird bewusst, wie unvollständig unsere eigene, ziemlich festgefahrene Aufarbeitung der Moderne und ihrer Ikonen zu bewerten ist. Wir begegnen aber nicht nur unbekannten Meisterwerken einer parallelen modernen Tradition, sondern auch gebauten Experimenten, die aus dem Arsenal westlicher Architekturutopien der 1960er Jahre zu stammen scheinen, die auf unserer Seite des Eisernen Vorhangs aber nur selten realisiert werden konnten.

ERNÜCHTERUNG
Die Ausstellung erzählt nicht nur etwas über ihre Gegenstände, sondern auch über unsere Gegenwart und ihre Eigenheiten. Jeder Blick in die Vergangenheit ist ein Blick in den Spiegel. Filme, deren Handlung in einer vergangenen Epoche angesiedelt wurde, sagen ja auch meist mehr über die Zeit ihrer Entstehung aus als über einen fokussierten zeithistorischen Abschnitt. Die Ausstellung spiegelt so auch die zeitgenössische Vorliebe für Ikonen, Fetische – wie man früher gesagt hätte, fotogene Objekte mit Sex-Appeal und natürlich Stars und Ausnahmeerscheinungen aller Art wider. Gleichzeitig herrscht die Tendenz vor, der Alltagskultur, der Wiederholung, dem Seriellen und Gewöhnlichen – also zentralen Aspekten der fordistischen Moderne – mit Langeweile zu begegnen. Das Problem dabei ist, dass die anderen Geschichten, die wir uns gerne erzählen, oft auch Umdeutungen der Vergangenheit im Sinne einer gegenwärtigen Kulinarik sind. Die unumgängliche Konsumtauglichkeit verlangt eine Betonung der Ästhetik und Performance und das Zurückdrängen der Analyse einer vielleicht grauen Alltagswirklichkeit und der mit ihr verbundenen Tristesse. Ein wenig scheint es so, als wollten wir in den gebauten utopischen Fragmenten der sowjetischen Vergangenheit gerne die nachgeholte Realisierung eigener Träume sehen. Der Preis dafür ist beinahe zwangsläufig eine latente Dekontextualisierung und Vereinnahmung. Einerseits bricht die hegemoniale Vorstellung der modernen Architektur erfreulicherweise immer mehr auf, aber der Reflex, Anderes, Fernes, Fremdes dem eigenen Diskurs einzuverleiben, zu neutralisieren und zu verzerren, ist nach wie vor gegenwärtig. Brüche und Widersprüche werden gerne integriert und entschärft und somit ihrer Sprengkraft ein Stück weit beraubt.

INTERNATIONALER STIL, AUSTAUSCHBARE INHALTE?
1932 markierte die Ausstellung The international style: architecture since 1922 die erste konzertierte Thematisierung der modernen Architektur im Westen. Es scheint, dass wir uns immer noch nicht von der Dominanz der Stilfrage haben lösen können. Davon zeugt auch so mancher Schnappschuss der aktuellen Ausstellung. Charismatische Gebäude werden präsentiert, von deren Innenleben und Geschichte wir (noch) nichts erfahren. Man wünscht sich, über weniger Projekte mehr zu erfahren. In der Fülle der präsentierten Gebäude neigt der Blick des Betrachters dazu, vergleichend und aneignend zu sein. Die Beispiele werden allzu schnell ihrem Kontext entnommen und in den eigenen Kanon einsortiert. Nur ein vertieftes Wissen kann vor diesem Reflex schützen. Die Rückkoppelung der Fragmente in den Gesamtzusammenhang und vice versa ist ein aufwendiges Verfahren und kann nur schwer von einer einzigen Ausstellung geleistet werden. Das Verhältnis zwischen Architektur, Ideologie und Gebrauch ist indirekt, komplex und nur in Ausnahmefällen linear. Viele der gezeigten Projekte scheinen tatsächlich auf andere Praktiken und Wirklichkeiten zu verweisen, als sie uns die seriellen Plattenbauten zu erzählen vermögen. Man könnte sagen: Hinter den alten Schauergeschichten in Schwarz-Weiß werden Farbfilme mit Humor, Experimentierlust und Devianz sichtbar. Manche der wiederentdeckten Bauten scheinen symbolisch und strukturell auf ein komplexeres Verhältnis zwischen Kollektiv und Individuum hinzuweisen, als es die offizielle Geschichtsschreibung über die Sowjetunion bisher zugelassen hat – aber das ist Spekulation.

FORTLAUFENDE DEKONSTRUKTION
Das Potenzial der Beschäftigung mit der anderen Moderne liegt sicherlich in der zum Teil noch ausständigen Dekonstruktion westlicher Mythen und Erzählungen in Bezug auf die Geschichte der Architektur und des Städtebaus der Moderne. Die unbekannte exotische Welt hat eine Sprengkraft für die eigenen liebgewordenen Übereinkünfte. Der Kongress im Az W hat dieses Potenzial zum Vorschein gebracht. Zwischen vielen Zeilen der Referate der ForscherInnen wurde diese – weitgehend noch ungenutzte – Chance immer wieder deutlich. Wolfgang Kiel schlug in seinem Vortrag über das Ferienlager Artek am Schwarzen Meer nicht ganz ohne Pathos vor, sich die Architekten dieser großzügigen und lichten Bauten frei nach Albert Camus »als glückliche Menschen« vorzustellen. Diese Anmerkung verweist auf die Leerstelle in unserer an Utopien armen Gegenwart. Vielleicht ist der etwas anachronistische Rückgriff auf Albert Camus ja ganz bewusst gesetzt und an uns adressiert, trat dieser doch, wenn schon nicht für eine Revolution, dann doch vehement für eine permanente Revolte ein.


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