» Texte / Street Art und doch nicht Kunst im öffentlichen Raum…?

Daniel Kalt

Daniel Kalt lebt als Kulturwissenschaftler, freiberuflicher Journalist und Übersetzer in Paris.


Street-Art, Straßenkunst, Urban Art, Post-Graffiti – Begriffe, die laut Julia Reinecke dasselbe beschreiben. Die Verhübschung globalisierter Metropolen nämlich, dabei fungierend als Gradmesser für fortschreitende Gentrifizierung und zugleich als Ausdruck individueller Künstlerstrategien zur Erlangung von symbolischem Kapital mit der Aussicht auf Konvertierung desselben in hard cash. Wenigstens ist dies die Sichtweise der Autorin (verknappt: „Die Hauptgruppe der Street-Art-Akteure studierte oder studiert Grafikdesign oder Illustration und hat demnach das Ziel, in dem Feld der angewandten Kunst zu arbeiten.“), und so laboriert sie in einem soeben erschienenen Band auf knapp 200 Seiten an einer Überschau des Phänomens.

Das Gute vorneweg: Die einigermaßen detaillierte Überschau der Arbeiten von zehn Street Artists gibt Einblick in verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten einer Kunstrichtung, die Ausdruck einer „Subkultur“ ist und sich in erster Linie über ihren (illegalen) Anbringungsort definieren lässt. Seien es Stencil-(Post)-Graffitis im Pariser Stadtraum durch Blek Le Rat ab den frühen 1980er Jahren, seien es die Obey Giant-Kampagne von Shepard Fairey oder Mosaike von Invader: Bedeutende Positionen, die teilweise die Grenze zwischen öffentlichem Außen- und musealem Innen-Raum transzendieren, werden kurz besprochen. Dergestalt erschließt sich den Lesenden ein repräsentatives Panorama aktueller Tendenzen der Post-Graffiti Ära.

Mit Vorsicht zu genießen allerdings sind Reineckes theoretisierenden Ausführungen, mit welchen sie Street Art im Feld künstlerischer Produktion (Bourdieu rangiert als prominentester Pfeiler im Theoriekonstrukt der Autorin) zu positionieren versucht. Die Frage, ob es sich dabei um angewandte Kunst handle, verliert sich in einem nicht sehr stringenten Reflexionsstrang um und über Dada, Ready-Mades, Pop-Art und Werbung. Ein bisschen mehr an relevanter Ideengeschichte wird in losen Bissen kredenzt, wobei nicht ganz klar wird, welchen intrinsischen Zusammenhang mit dem Situationismus oder der Land Art Reinecke für Street Art letztlich konstatiert. Aufzählung kommt hier vor Analyse.

Wirklich merkwürdig gerät jener Abschnitt, in welchen Reineckes Gedanken um die „Gemeinsamkeiten mit Kunst im öffentlichen Raum“ zu kreisen beginnen (besser wäre vielleicht der Begriff Kunst am Bau, denn Street Art ist jedenfalls auch „Kunst im öffentlichen Raum“ und eine ihrer möglichen Spielarten). Hier kommt man nämlich nur mit Mühe umhin, das allgemeine Kunstverständnis der Autorin in Frage zu stellen, da für sie offenbar die Rezeption eigentlicher Kunst als privilegiert-akademisierter Akt gilt: „Street-Art-Künstler bringen unentgeltlich Arbeiten an, die für die Rezeption kein kunstwissenschaftliches Hintergrundwissen voraussetzen. Aus diesem Grund sind die Arbeiten für Menschen mit unterschiedlichem Habitus verständlich und können auch marginalisierten Gruppen Vergnügen bereiten.“ Eine solche Aussage legt Zeugnis von völliger Gleichgültigkeit gegenüber aktuellen Positionen in der Debatte um Kunst im öffentlichen Raum ab und kann obendrein bloß Verwunderung hervorrufen: Schließlich ist nicht einzusehen, weshalb gleich welches „Vergnügen“ im Prozess der Kunstrezeption nur bei entsprechendem Bildungshintergrund möglich sein sollte. Schade, dass das grundsätzlich löbliche Unterfangen Reineckes, eine Forschungsarbeit über Street Art vorzulegen, letztlich von ihrer Tendenz zu unnötigen Pauschalisierungen untergraben wird.


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