Vernetzte Orte, unterschiedliche Perspektiven, kollektives Miteinander – Zwischenstand einer Besetzung im Prozess
Besprechung von »Mehr als ein Viertel. Ansichten und Absichten aus dem Hamburger Gängeviertel« herausgegeben von Gängeviertel e.V.»Komm in die Gänge«, so lautete vor drei Jahren die Aufforderung von rund 200 engagierten Menschen in Hamburg. Tausende Interessierte strömten darauf hin im August 2009 in das historische Gängeviertel und wurden Teil der »künstlerischen Bespielung« der Gebäude und Flächen, die bis dato andauert und einem ständigen Prozess der Auseinandersetzung – sowohl innerhalb als auch mit Institutionen, Bewegungen und Personen außerhalb des Viertels und insbesondere der Stadt Hamburg – unterliegt.
Das Buch Mehr als ein Viertel. Ansichten und Absichten aus dem Hamburger Gängeviertel erscheint zum dritten Geburtstag des Gängeviertels und wagt eine erste schriftliche Dokumentation der Ereignisse, des kollektiven Wissens der Aktiven aus dem bisherigen Prozess und der reflexiven Auseinandersetzung mit den künstlerischen und stadttheoretischen Anteilen, die das Gängeviertel von Beginn an bestimmt haben.
Das Buch enthält 16 Texte und drei Interviews, die sich auf unterschiedlichen Ebenen mit Themen auseinandersetzen, die das Gängeviertel beschreiben und beschäftigen. Vor allem die Frage der Kollektivität und die Herausbildung und Zusammenarbeit einer Gemeinschaft von Aktiven wird multiperspektivisch beleuchtet. Ergänzt werden diese Texte durch zahlreiche Illustrationen, Fotos, freie Textarbeiten, eine Chronologie der Ereignisse und grafisch aufgearbeiteten Zahlen und Fakten zum Viertel.
In der Zusammenschau zeichnen die Texte und Grafiken ein vielschichtiges Bild des Viertels als Freiraum für Kunst, Kultur und Politik und verdeutlichen dessen außergewöhnliche Struktur. Diese Vielschichtigkeit der Texte ist zum einen darauf zurückzuführen, dass das Buch in einem kollektiven Prozess entstand und subjektive Schlaglichter aufwirft, die die jeweiligen Erfahrungen des/der AutorIn widerspiegeln. Zum anderen generiert die Vielfalt der angesprochenen Ebenen ein dichtes Bild über die alltäglichen Auseinandersetzungen, die das Gängeviertel prägen.
Texte über die Geschichte und Geschichten der Besetzung, die Vorbereitungen und Ideen, die zu Beginn der Aktion das Vorgehen bestimmten, die Auseinandersetzungen mit der Stadt Hamburg und die Vernetzung im Rahmen des Netzwerks Recht auf Stadt erzählen von den unterschiedlichen Meinungen im Viertel und den Schwierigkeiten, die eine solche Besetzung mit sich bringt. Sie zeichnen ein sehr persönliches Bild des Viertels und dokumentieren Versuche, Scheitern und Verhandlungsstrategien, verdeutlichen die Heterogenität und Widersprüchlichkeit des Gängeviertels und die Entscheidungen, die auf dem Weg bis hin zur Gründung des Gängeviertel e.V. und der Gängeviertel-Genossenschaft getroffen wurden.
Andere Texte und Bilder beantworten die Frage »Was ist das Gängeviertel und wie funktioniert es?« und geben Einblicke in die Arbeitsweise der Gruppen und Verantwortlichen. Ein geschichtlicher Abriss über und ein architektonischer Rundgang durch das Viertel kontextualisieren und verorten das Gängeviertel im Hamburger Stadtraum und ermöglichen LeserInnen einen Einstieg in den Raum, der Hintergründe offenbart, die im reinen Begehen des Viertels nicht sichtbar werden. Auch der alltägliche Kunst- und Ausstellungsbetrieb, das Gängeviertel als Produktionsort für Kunst und die besondere Funktion, die kreative und künstlerische Auseinandersetzung für das Kollektiv einnimmt, werden angesprochen. Zudem strengt ein Text Überlegungen zur Finanzierung der Unternehmung Gängeviertel an. Eine Diskussion mit Kunst- und Kulturschaffenden aus dem Viertel erörtert, welchen Kunstbegriff das Gängeviertel verfolgt und ob es überhaupt einem Kunstbegriff verpflichtet ist. Darüber hinaus findet eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Ängsten einer Institutionalisierung des Viertels statt. Aber auch ehemalige Mitglieder des Viertels und andere Initiativen aus Hamburg (Rote Flora, Hafenstraße, Centro Sociale) kommen in zwei Interviews zur Sprache und ermöglichen einen Einblick in die Kritik, die dem Gängeviertel entgegengebracht wird, und den Umgang mit dieser Kritik innerhalb des Kollektivs Gängeviertel.
Neben diesen prozess- und projektbegleitenden Texten finden sich textuelle Ausblicke und Überlegungen, die sich vertieft und theoretisch mit Fragen der Bedeutung des Gängeviertels für Stadtentwicklung (nicht nur in Hamburg) und Gesellschaft auseinandersetzen, sich in einem stadttheoretischen Diskurs um Recht auf Stadt und creative city verorten und weiterführende Fragen aufwerfen: Wie können die offenen Räume des Gängeviertels für eine offene Gemeinschaft genutzt werden? Wie arbeitet ein heterogenes Kollektiv an einem übergeordneten Ziel? Wie kann ein Projekt wie das Gängeviertel sich etablieren, ohne in der Verwertungsmaschine der Stadt aufzugehen und sich instrumentalisieren zu lassen? Inwieweit ist das Gängeviertel ein best-practice- Beispiel für nachhaltige Stadtentwicklung, und welchen Beitrag kann es in der Nachhaltigkeitsdebatte leisten? Bedeutet eine Institutionalisierung des Viertels das Ende eines lebendigen Projektes? Oder ist sie notwendig, um einen Aktionsspielraum zu erhalten? Welchen Beitrag leistet das Gängeviertel zu einer ästhetischen Bildung? Kann es neue Räume schaffen, in denen ein kritischer Diskurs möglich wird?
Das Buch zeichnet in sehr persönlichen Worten den Weg des Gängeviertels nach, erörtert die Schwerpunkte des Schaffens im Viertel und eröffnet ein breites Spektrum an Themen, über die sich eine Gruppe bei einer solchen Besetzung Gedanken machen muss. In der Auseinandersetzung mit der Stadt fragen die AutorInnen nach der Bedeutung des Viertels und seiner Aktivitäten, zeigen aber auch die Schwachstellen der bisherigen Arbeit, die Probleme und Ansatzpunkte für Kritik auf, deren sich die Aktiven teilweise sehr bewusst sind.
Mehr als ein Viertel verdeutlicht die Organisationsform des Gängeviertels und die grundlegenden Ansichten und Absichten des Kollektivs. Die Texte zeigen, wie im Gängeviertel mit diesen gearbeitet wird. Das Buch kann deshalb nicht als Anleitung zu einer erfolgreichen Besetzung gelesen werden. Vielmehr werden Ideen, offene Prozesse, Gedanken und Analysen aufgezeigt, die Anregungen zum Weiterdenken bieten.
Katharina Held studierte Kultur der Metropole an der HafenCity Universität in Hamburg und schloss ihren Master in Urban Studies am University College in London ab.