Wildnis, Kontrastierung, Reduktion und Ironie vs. angenehme Orte
Besprechung von »Freiraum und Verhalten. Soziologische Aspekte der Nutzung und Planung städtischer Freiräume. Eine Einführung« von Wulf TessinDas Verhältnis von Raum und Gesellschaft bzw. Planung und Soziologie wird von Wulf Tessin anhand des städtischen Freiraums facettenreich dargestellt. Tessin hatte bis letztes Jahr die Professur für planungsbezogene Soziologie an der Leibniz Universität Hannover inne und positioniert sich in der vorliegenden Publikation in der Tradition der Sozialpsychologie bzw. der sozialwissenschaftlich orientierten Freiraumplanung. Die Bearbeitung der Schnittstelle zwischen PlanerInnen und NutzerInnen ist als Einführung für Landschafts- und andere PlanerInnen konzipiert und dient der sozialwissenschaftlichen Reflexion der Berufspraxis.
Der Autor spannt dieses Ansinnen in zehn Kapiteln auf, deren thematischer Fokus sich jeweils um zentrale sozial-wissenschaftliche Referenzwerke entwickelt. In teilweisem Rückgriff auf eigene Erhebungen, Forschungsergebnisse und Publikationen werden die soziologischen Theoreme mit dem thematischen Komplex Freiraum in Kontext gesetzt und diskutiert. Dies gelingt meist unterhaltsam, spannend und wissenserweiternd, in Teilabschnitten gleitet die verallgemeinernde Sicht auf gesellschaftliche wie planende AkteurInnen jedoch in eine polarisierende Gegenüberstellung von planender Zunft und sich verhaltender Bevölkerung ab. Dies mag aus dramaturgischen Gründen zum Aufbau einer rhetorischen Figur sinnvoll sein, der argumentative Spannungsbogen würde auch ohne Zuspitzung auskommen.
Zu Beginn des Buches wird das Bezugsfeld abgesteckt – Planung und Soziologie, Raum und Gesellschaft. Der architektonische Determinismus des Konzepts vom defensible space (Newman 1972) wird mit dem Hawthorne Experiment aus den 1920er Jahren argumentativ entkräftet. Tessin konstatiert, dass ein einfaches Reiz-Reaktions-Modell – wie die in Newman’scher Tradition stehenden Annahmen, dass EigenheimbesitzerInnen (mit Garten) eine tugendhaftere Lebensweise an den Tag legten und generell heimatbewusster agierten – nicht in der Lage ist, menschliches Verhalten in Abhängigkeit von räumlichen Bedingungen zu erklären. Die Weltoffenheit des Menschen wie die hohe Komplexität menschlichen Verhaltens bedürfen weiter gefasste Theoreme und stellen eine methodologische Herausforderung dar.
Konsequenterweise werden daher u.a. die »General Theory of Action« (Parsons & Shils 1951) zum Aufbau einer freiraumkulturellen Praxis und die »Behaviour Settings« (Barker 1968) für eine zusammenfassende Sicht auf räumliche und soziale Aspekte eingeführt. Ausgestattet mit diesem Hintergrund können das beobachtete Verhalten im Freiraum und die gestalterischen Konzepte in Wechselwirkung gebracht und anregend diskutiert werden. Spätestens wenn der Autor den Begriff der Präventionsarchitektur einbringt, der sich in »milieugemäßen Befestigungen« von Freiräumen manifestiert, werden die Diskussionen mit Stadtgarten- und Straßenbauämtern, mit BezirkspolitikerInnen und AnrainerInnen über die Gestaltung und Ausstattung öffentlicher Freiräume plastisch aus der Berufspraxis in Erinnerung gerufen. Der mögliche Konnex von – durchaus mit zeitgenössischen Mitteln erfolgender – Neugestaltung von Freiräumen und Segregations- und Aufwertungspolitik wird dabei von Tessin direkt adressiert.
Liebliche, idyllische Orte (loci amoeni), die Restnatur wie auch den arkadischen, romantischen Blick auf die Landschaft erläutert der Autor mit Freiraumbedürfnissen, sozialen Milieus und dem freiraumkulturellen Wandel. Immer wieder wird auf die relative Unwichtigkeit sowohl der Existenz des Freiraums an sich – schließlich stellt er keinen existenzsichernden Faktor dar – als auch seiner Gestaltung Bezug genommen. So entsteht teilweise der Eindruck einer Luxusdiskussion, bei der unklar bleibt, ob sich der Autor hinter die Ergebnisse seiner Befragungen nur zurückzieht oder diese auch teilt. Meist jedoch werden die Ergebnisse in guter sozialwissenschaftlicher Tradition differenziert diskutiert. So etwa im angeführten Beispiel einer Befragung zur Beeinträchtigung der Wohnqualität durch einen Kinderspielplatz. In dieser – 1985 durchgeführten – Studie werden von den Befragten jene Störungen am höchsten bewertet, die nicht oder fast nicht vorhanden sind. Begründet wird dieses Ergebnis mit einem »contrafaktischen Wahrnehmungs- und Beurteilungsverhalten als Ausdruck von allgemein verbreiteten (negativen) Vorurteilen«. Damit öffnet sich der Argumentationsstrang zu ideologischen Konstrukten, die Tessin im Sinne Mannheims (1969) verstanden wissen will.
Mittels dieses Begriffs fordert der Autor einerseits das Aufbrechen der traditionellen Sichtweise auf Landschaft und städtisches Grün durch eine Stärkung der »Zweidimensionalität« (Marcuse 1974) bzw. »Andersheit« (Welsch 1995) in der Landschaftsarchitektur. Wildnis, Kontrastierung, Reduktion und Ironie wären Kernbegriffe dieser Forderung, die allerdings mit dem Wunsch »der Leute« nach angenehmen Orten und positiv besetzten Klischeevorstellungen in Konflikt stünde – »die Leute wollen das städtische Grün so angenehm wie möglich und sei es als Illusion« (S. 153). Diese Gegenüberstellung überspitzt Tessin in der Folge in der Darstellung der PlanerInnen-Ideale, in der wiederholt auf die Suche nach lukrativen Arbeits- und Einkommensquellen verwiesen, generell jedoch das Auseinanderklaffen zwischen dem Ideal der PlanerInnen und der freiräumlichen Nutzungspraxis konstatiert wird. In diese Lücke platziert Tessin das Wortungetüm des Freiraumkulturmanagements, das zwischen »uneigentlichem Verhalten«, freiraumkulturellem Potenzial und Freiraumbedürfnissen vermittelt. Nebenbei wird damit auch eine konstruktive Erweiterung des Berufsfeldes der Landschaftsarchitektur skizziert, das in herkömmlichen Planungszugängen mit der Gestaltung von »Hartz-IV-Grün« konfrontiert ist und dabei oftmals scheitert.
Tessin legt mit dieser Einführung einen lesenswerten Versuch vor, Erkenntnisse aus der sozialwissenschaftlich orientierten Freiraumforschung mit der landschaftsarchitektonischen Berufspraxis zu kontextualisieren. Dass dabei zeitweise ein veraltet anmutendes Disziplinverständnis bemüht wird, weist auf die Ungleichzeitigkeit der disziplinären Entwicklung hin, die – ebenso wie die Formulierung weitergehender Forschungskomplexe – zu verstärkter kritischer Auseinandersetzung aufruft. Studierenden, Lehrenden wie auch Planenden kann bei diesem Unterfangen das vorliegende Werk als Grundlage empfohlen werden.
Philipp Rode