Berlin Contested
Besprechung von »The Berlin Reader. A Compendium on Urban Change and Activism« herausgegeben von Matthias Bernt, Britta Grell und Andrej HolmWie viele andere europäische Metropolen ist Berlin eine Stadt, deren Selbstbild von der Unvergleichlichkeit der eigenen Existenz gespeist wird. Berlin ist eine Stadt der Zäsuren, vor dem Bau der Mauer/nach dem Bau der Mauer, vor dem Fall der Mauer/nach dem Fall der Mauer. Der Berlin Reader. A Compendium on Urban Change and Activism widmet sich der jüngeren Vergangenheit der 1990er Jahre und erreicht die Gegenwart mit Texten, die zwischen 1991 und 2013 erschienen sind. Es geht nicht um eine Analyse der jüngeren Vergangenheit aus der Perspektive des rückblickenden Heute, sondern um eine Sammlung von Texten, die in ihrer jeweils gegenwärtigen Situation ihre Argumentationsstränge entwickeln, ihre Berlin-Observationen und Analysen mitteilen. Berlin, die geteilte Stadt mit ihrer komplexen Vergangenheit und ihrer herausfordernden Gegenwart, gilt als einer der europäischen Anziehungspunkte für globale Tourismusströme. Zwischen 2002 und 2012 betrug die durchschnittliche Zahl der touristischen Übernachtungen pro Jahr 25 Millionen. Berlin ist eine Stadt der Studierenden, der KünstlerInnen, der Kreativen.
Berlin ist aber auch, wie die drei HerausgeberInnen des Bands, Matthias Bernt, Britta Grell und Andrej Holm, betonen, ein Objekt des wachsenden Forschungsinte-resses und der internationalisierten Wissenszirkulation. Konferenzen und Workshops zu Fragen des Wohnraums, der Stadtentwicklung, der Stadtplanung und der sozialen städtischen Bewegungen fokussieren auf Berlin. Eine große Zahl an neuen Untersuchungen und Forschungen zu Berlin, die vor allem im englischsprachigen Kontext auszumachen sind, wird vorgelegt. Vor allem letzteres ist als eine der entscheidenden Motivationen anzusehen, dass die drei HerausgeberInnen den Berlin Reader vorgelegt haben. Der deutsche Forschungsstand zu Berlin wird international nicht rezipiert, die Sprachbarriere verhindert dies. Die Besonderheiten der lokalen Entwicklungen und Situationen werden nicht ausreichend erfasst, weil die Innenperspektive, auf Grund der fehlenden Sprachzugänglichkeit, fehlt. (Es sei am Rande angemerkt, dass dieses Dilemma grundsätzlich für alle nicht-englischsprachigen Stadtforschungen gilt, die von
englischsprachigen ForscherInnen nicht rezipiert werden können, was zu Auslassungen und Forschungsverzerrungen
führt. Dies wäre eine eigene kritische Untersuchung wert).
Unter den als geläufig anzusehenden Berlinzuschreibungen, wie »Berlin’s Megalomania«, »Berlin In-Between«, »Berlin on Sale« und »Berlin Contested« ist das Buch in vier Teile strukturiert. Der Versuch besteht darin, Lesarten von Berlin zu versammeln und im vergleichenden Leseüberblick zugänglich zu machen, die innerhalb dieser vertrauten und gängigen Zuschreibungen spezifische Raumpolitiken, kritische Haltungen und differenzierende Analysen miteinander in Verbindung setzen.
Im 1997 erstmals erschienenen Artikel Der Berliner Städtebaudiskurs als symbolisches Handeln und Ausdruck hegemonialer Interessen spricht die Architektur- und Planungshistorikerin Simone Hain von »hitzigen Wortgefechten in den Berliner Arenen der Macht und Öffentlichkeit«. Sie beschreibt den Konflikt zwischen fordistischer und postfordistischer Stadtentwicklung, zwischen »technokratischen und sozialen Planern« gegenüber den »weltweit teuer gehandelten Stararchitekten« und sieht deren »Gegensatz, ja Feindschaft« am deutlichsten inkarniert in Berlin, dem »offenen Ost-West Experiment«. Die Teilung als ebenso selbstverständlich angenommene wie brisant aufgeladene Argumentationslinie, die sich raumanalytisch durchaus aus dem lokalspezifischen Berlin-Kontext begreifen lässt, spielt auch im Beitrag der Politikwissenschaftlerin Margit Mayer eine Rolle. Mayer setzt sich in New lines of division in the New Berlin mit Dualismus und Polarisation auseinander und zieht einen Stadtvergleich mit New York. Sie sieht Parallelen zu einer tiefgreifenden Polarisierung, die sowohl räumliche wie soziale Wirkungen zeitigt, und stellt diese als Grenzlinien dar.
Stadtforscher Stefan Lanz beschreibt in Berlin Diversities: The Perpetual Act of Becoming of a True Metropolis wie sich das Bild einer Stadt, in der sich die einheimische Mehrheitsgesellschaft zwar selbst eine Diversität an Lebensstilen zugeschrieben hat, bei den »guest workers« jedoch nur »supposedly homogeneous ethnic or national cultural groups« wahrnahm, sich zur Imagination einer »ethnically and nationally diverse metropolis« entwickelt hat. Sabine Uffer untersucht in ihrem Beitrag die gegenwärtigen Auswirkungen der Wohnungsprivatisierung in Berlin. Investitionsstrategien und ihre Konsequenzen für die Stadt und ihre Bewohner. Privatisierung erfolgte im großen Maßstab, »en bloc«, und wurde daher vor allem von institutionellen InvestorInnen wahrgenommen. »A balanced development was tipped in favor of attracting capital and against tenants, especially the more vulnerable ones«. Daran anschließend setzt sich der Sozialwissenschaftler Andrej Holm in Berlin’s Gentrification Mainstream mit den unterschiedlichen Ausformungen der Gentrification auseinander. Es gibt weder in Berlin nur einen Modus der Gentrifizierung noch gibt es im internationalen Vergleich ein Gentrifizierungsmodell, das überall gleich angewandt wird. Diese Differenzierung in der grassierenden Gentrifizierungsdebatte ist wichtig – »taking this city-wide focus on gentrification, the case of Berlin shows, secondly, that there is no common modus of upgrading, but a multiplicity of gentrification.«
Insgesamt gibt der Berlin Reader als profunde Heranführung einen kritischen Überblick über Stadtentwicklung, Debatten und Aktivismus in Berlin seit den 1990er Jahren. Ein Kommentarapparat, der die politischen und zeithistorischen Hintergründe genauer einordnet und nachvollziehbar macht, hätte, ebenso wie Fotografien und Pläne, die die besprochenen Stadtentwicklungen visuell und
räumlich vermitteln, die Zugänglichkeit für diejenigen, die den Berlin Reader als
Einführung verwenden und keine Berlin kennenden LeserInnen sind, viel Sinn gehabt.
Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.