Dem Vergessen entreißen
Besprechung von »Architektur. Vergessen. Jüdische Architekten in Graz« von Antje Senarclens und Heidrun ZettelbauerDas Buch Architektur. Vergessen ist das überaus beachtenswerte Endprodukt eines Forschungsprojekts der Universität Graz, das von Antje Senarclens de Grancy und Heidrun Zettelbauer durchgeführt wurde. Das Projekt widmete sich einem interdisziplinär fast gänzlich aus dem breiten Bewusstsein verschwundenen Stück Architekturgeschichte – dem Beitrag jüdischer Architekten im Graz vor dem Zweiten Weltkrieg. Aus den Texten der 15 Beiträger aus den Fächern Zeitgeschichte, Kunstgeschichte, Kulturanthropologie und Architektur entsteht eine plastische und multiperspektivische Sicht auf Gesellschaft und Städtebau im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts. Die Autorinnen betonen jedoch dezidiert, nicht bestrebt zu sein, den jüdischen Anteil an der Architekturgeschichte im Sinne eines „jüdischen Heritage“ wiederzuentdecken, sondern, dass sie das Vergessen als Phänomen thematisieren wollten.
Den Ausgangspunkt für den Blick auf das „Vergessen als kulturelle Praxis im Feld der Architektur“ bilden fünf wichtige Grazer Bauten aus der Zeit von 1910 bis 1934, denen gemeinsam ist, dass sie durch Kriegsschäden, Wiederaufbaueuphorie und Modernisierungswellen physisch und visuell entweder ganz abhanden gekommen sind oder nur mehr in stark veränderter Form weiterbestehen. Diese Gebäude sind das erste Grazer Arbeitsamt - ein für die dreißiger Jahre repräsentativer funktionaler Flachdachbau; das aus den zwanziger Jahren stammende Margarethenbad; die Zeremonienhalle für den Israelitischen Friedhof; das Kinderheim Lend und schließlich die genossenschaftlich errichtete Stadtrandsiedlung Amselgasse. Die Architekten und Baumeister – Alexander Zerkowitz und sein Sohn Bruno, Eugen Székely und Franz Schacherl – repräsentieren in ihrer unterschiedlichen Herkunft und ihren fragmentierten Lebensläufen das Spektrum an individuellen und kollektiven Kontexten der Zeit. Selbst gewählte oder zugeschriebene jüdische Identität(en) bilden eine wesentliche Dimension rund um ihr Vergessen und (Wieder-)Erinnern.
Die AutorInnen beschreiben ein reiches Spannungsfeld zwischen Prozessen der Überbauung, Funktionsänderung und Neukonzeption sowie radikalen Eingriffen durch politische Neukodierung oder Zerstörung. Die dazu verwendeten kurzen, salopp »Splittertexte« genannten Aufsätze erheben – teils wissenschaftlich, teil essayistisch angelegt – keinen Anspruch auf eine vollständige Darstellung. Im Gegenteil verweisen sie bewusst darauf, dass es sich beim Prozess des Erinnerns zwangsläufig immer um selektive und subjektive Auswahl von relevant erscheinenden Elementen handeln muss. Nach Ansicht der Autorinnen spricht »Architektur weder für sich selbst noch erzählt sie Geschichte«, sondern erhält ihre Aussagekraft und ihre Botschaften jeweils erst durch den spezifischen Blick des/r Betrachters/in, der bestimmte Bedeutungsschichten freilegt.
Der Einleitungsteil des Buches bietet unter dem Titel »Blickachsen« wichtige Informationen zu Theorie der Biografieforschung sowie jüdischer Identität in der Zwischenkriegszeit und Erinnerung daran. Jeweils fünf bis sechs Texte sind im Hauptteil den einzelnen Bauwerken, die im Blickpunkt des Bandes stehen, gewidmet: von der Planung, der Bauausführung über Nutzung und Neukodierung bis hin zu Überlagerung und materiellen Spuren. Das reiche und vielseitige Bildmaterial dokumentiert ergänzend dazu anschaulich in und Fotografien und Skizzen die damalige Genese der Gebäude ebenso wie die heutige topografische Situation.
Im dritten und abschließenden Teil geben biografische Abrisse einen Einblick in die Lebenssituation und das weitere Schicksal der vier jüdischen Architekten, die vom Widerstreit zwischen Assimilation und Antisemitismus überschattet waren: Alexander Zerkowitz (Warenhaus Kastner & Öhler, sezessionistisch geprägte Wohnhäuser Humboldtstraße/Körblergasse) blieb durch seinen Tod im Jahre 1927 das Schicksal seines Sohnes Bruno (Margarethenbad) erspart, der 1942 in Kroatien in einem NS-Lager ermordet wurde. Eugen Székely (Arbeitsamt, Siedlung Amselgasse) emigrierte bereits 1935 nach Haifa und wirkte in Israel bis zu seinem Ableben 1962 als Architekt. Franz Schacherl (Kinderheim Lend) flüchtet nach dem Anschluss im März 1938 überstürzt über Frankreich nach Angola, wo er 1943 in Luanda an den Folgen der Operation eines Magengeschwürs stirbt.
Josef Schiffer