Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Vor rund 40 Jahren hat der Sozialwissenschaftler Ray Oldenburg den Begriff der Third Places geprägt und damit Räume bezeichnet, die weder der privaten Sphäre zuzuordnen sind noch dem Berufsleben. Räume, die ihren ersten großen Aufschwung erlebten, als es mit der Industrialisierung zu einer Trennung von Wohnraum und Arbeitsplatz kam. Oldenburg bezeichnete damit vorrangig soziale Orte der Geselligkeit wie Cafés, Pubs oder Klubs, aber auch Buchhandlungen oder Friseurläden – auch das Wiener Kaffeehaus findet in seinem gleichnamigen Buch prominente Erwähnung. Oldenburgs Third Places sind, wie er selbst schreibt, Orte, an denen die Menschen, die sie aufsuchen, nicht in die Rolle des*der Gastgebers*Gastgeberin schlüpfen müssen und es sind Orte, die man in erster Linie aufsucht, um in Gesellschaft zu sein, sich zu unterhalten, to »serve the human need of communica- tion« (S. 20). Third Places sind Orte, die es erlauben zu kom- men und zu gehen wann immer man will. Es gibt keine Verpflichtung zur Anwesenheit, es gibt keine Beginnzeiten, es gibt keine organisierten Treffen. Man kommt in der Gewissheit, jederzeit Leute zu treffen, mit denen sich eine gute Zeit verbringen lässt.
        Third Places fungieren auch als Leveler, als Orte, die soziale Unterschiede ausgleichen und diese in den Hintergrund treten lassen. Die wichtige Rolle der Third Places sieht Oldenburg gerade darin, die Gesellschaft zusammenzuhalten: weil von Angesicht zu Angesicht diskutiert werden kann, weil man von seinen Mitmenschen ein umfassendes Bild bekommt, weil unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch kommen, die vor allem die Tatsache eint, sich zur selben Zeit am selben Ort aufzuhalten und nicht etwa gemeinsame Interessen, Ansichten oder Berufe. Third Places bilden für Oldenburg »the political forum of the common man« (S. 25). Die Orte selbst brauchen dafür ein »low profile« (S. 36) mit günstigen Konsumationsmöglichkeiten und einer »unimpressive« (ebd.) Gestaltung, die einladend, aber trotzdem neutral in ihrer sozialen Kodierung wirkt. Hipness und innenarchitektonischer Übereifer sind fehl am Platz, im Mittelpunkt stehen die Gäste. Allgemeine Voraussetzungen für das Funktionieren dieser dritten Orte sind aber auch heterogene, nicht segregierte Stadtviertel und das Vorhandensein von Freizeit.
        All die erwähnten Voraussetzungen haben sich seit dem erstmaligen Erscheinen von Oldenburgs Werk im Jahr 1989 verschlechtert. Gentrifizierung hat in vielen Städten dazu geführt, dass Reiche und Arme noch seltener als zuvor in denselben Stadtvierteln wohnen, günstige Lokale gibt es nicht mehr an jeder Ecke und solche, in denen man sich stundenlang aufhalten kann, ohne ständig konsumieren zu müssen, schon gar nicht. Unimpressive zu sein will und kann sich heute kaum mehr wer leisten. Unaufgeregte, günstige und eben dadurch für unterschiedliche Schichten attraktive Beisln, Wirtshäuser, Kneipen und Cafés sind mit der Verwertung der Stadt vielerorts aus den Nachbarschaften verschwunden und durch nichts Gleichwertiges ersetzt worden. Vielleicht mit ein Grund, warum für nicht-kommerzielle, niederschwellige Räume, wie es sie in unterschiedlicher Ausprägung in vielen Städten gab und gibt, wieder verstärktes Interesse besteht.[1]
        Oldenburgs Studien haben zweifellos einen wichtigen Anstoß geliefert, um die Bedeutung von sozialen Räumen in der Stadt zu erkennen. Doch sie decken bei weitem nicht alle Aspekte ab, die wir unter der Bezeichnung Demokratische Räume diskutieren möchten. Denn neben Orten der niederschwelligen Begegnung braucht es auch eine Verfügbarkeit von Räumen, an denen Pläne geschmiedet, Projekte umgesetzt, Treffen abgehalten, Veranstaltungen durchgeführt und Experimente gestartet werden können, die Möglichkeiten der Selbstverwaltung, der Aneignung und Gestaltung bieten.

        Räumliche Ressourcen: Demokratie als Prozess
        Was aber macht Third Places und andere für alle zugänglichen Raumressourcen demokratiepolitisch so wichtig? Die Möglichkeiten, sich aktiv in die Gestaltung der eigenen Umwelt einzubringen und an der gesellschaftlichen Entwicklung Anteil zu nehmen, indem eigene Wünsche und Vorstellungen, eigenes Wissen und eigene Erfahrung eingebracht werden können und eine Rolle spielen, sind rar gesät und ungleich verteilt. Es braucht Selbstbewusstsein und das Wissen über Spielregeln, Strukturen und Netzwerke, um überhaupt in Betracht zu ziehen, Bestehendes in Frage zu stellen. Die Voraussetzungen für gesellschaftliches Engagement korrelieren mit dem sozialen Status. Sich gestaltend an der Gesellschaft zu beteiligen ist keine Selbstverständlichkeit. Selbstverständlich und vorherrschend in unserer demokratiemüden Gesellschaft ist vielmehr, die Verhältnisse als gegeben hinzunehmen, darauf zu vertrauen, dass »die Politik« schon ihr Möglichstes tun wird, um für eine lebenswerte Gesellschaft zu sorgen, oder, was viel öfter der Fall ist, sich zumindest damit abzufinden, dass man ohnehin nichts ändern kann.
        Die Dominanz des Neoliberalismus hat für viele eine Verschlechterung der Bedingungen gebracht, ein anständiges Leben führen zu können. Arbeitslosigkeit und Wohnkosten sind stark gestiegen, die Zahl der Jobs, die nur Hungerlöhne einbringen, ebenso. Arbeitsbelastung und Stress nehmen laufend zu, Solidarität und Klassenbewusstsein, und damit auch das Wissen darüber, dass es grundlegende gesellschaftliche Interessenskonflikte gibt und eben nicht jede*r ihres*seines Glückes Schmied ist, ab. Stattdessen greift die Erzählung vom individuellen Versagen und der persönlichen Schuld, wenn sich statt Erfolg nur Burnout einstellt, wenn sich trotz massiver Arbeitsbelastung die Geldbörse lange vor Monatsende leert. Die Hoffnung, die Politik würde sich darum kümmern, dass alle ein Auskommen finden, schwindet bei immer mehr Menschen. Die Politikverdrossenheit steigt, Ohnmachtsgefühle sind weit verbreitet und populistische Parteien und Verschwörungstheorien im Aufwind.
        Was aber tun, um einen neuen Pfad in Richtung mehr Demokratie einzuschlagen und den geschilderten Phänomenen entgegenzuwirken? Selbstverständlich braucht es mehrere Maßnahmen auf allen Ebenen. Doch die Nachbarschaften, das Grätzl und der Kiez bilden wichtige Ausgangspunkte für die Stärkung der Demokratie. Der Maßstab des Lokalen, des eigenen Lebensumfelds bietet konkrete Anlässe für Diskussion und Engagement. Hier kann erlebt werden, dass die eigenen Wünsche Berechtigung haben, kann Gegebenes in Frage gestellt und gemeinsam mit anderen um gute Lösungen gerungen werden. Im eigenen Viertel verfügt man über Alltagsexpertise, kennt die Probleme und Schwachstellen genauso wie ein paar Menschen, mit denen Vorstellungen diskutiert und ein Veränderungsprozess gestartet werden kann. Sich austauschen, andere Meinungen und Erfahrungen kennenlernen, tätig werden und Ideen gemeinsam erfolgreich umsetzen, sind Interventionen gegen die Ohnmacht und damit auch Schulen der Demokratie. Doch aktives, öffentliches Engagement benötigt Raum, der niederschwellig und kostenlos zur Verfügung steht. Egal ob es sich um Engagement in Stadtentwicklungsfragen oder die Bildung eines Nachbarschafts-Treffs, um Eltern-Kind-Gruppen, Fablabs, Repair- oder Sprachcafés, Kunst, Kreativ-Experimente oder soziale Start-ups handelt: Ohne räumliche Ressourcen bleiben viele gesellschaftlich nützliche Ideen auf der Strecke. In einer Gesellschaft, die mehr und mehr auseinanderdriftet und deutliche demokratische Defizite offenbart, braucht es offene demokratische Räume als integralen Bestandteil für funktionierende Nachbarschaften, die für Stadtteilversammlungen genauso Platz bieten wie für informelle Treffen, gesellige Feierlichkeiten, Weiterbildung, Kulturveranstaltungen und gesellschaftspolitisches Engagement.

        Top-down oder zwischengenutzt:
        Die Wiener Situation
        In der Zweiten Republik wurden Institutionen, die man tendenziell als offene Räume bezeichnen kann wie Volkshochschulen oder Büchereien, in Wien zwar wieder in Betrieb gesetzt und später auch neue wie die Volksheime oder die Häuser der Begegnung gegründet, aber im Vordergrund stand stets ein Top-down-Angebot und ideologische Vorstellungen wie beispielsweise »der Vermassung des Einzelnen in der Stadt« entgegenzuwirken (Ganglbauer 2012). Räume einfach günstig und unkompliziert als Ressource zur Verfügung zu stellen oder vielleicht sogar offensiv anzubieten, wurde von der Stadt nahestehenden Institutionen nie aufgegriffen oder umgesetzt.[2]
        Die Kultur suchte sich eigene Räume und fand sie in der Nachkriegszeit nicht zuletzt in den Kellern der Stadt. Auch die Wiener Kaffeehäuser bildeten noch lange Zeit wichtige Ressourcen als Treffpunkte für Künstler*innen, politische Gruppen und Initiativen.
        In den 1970er- und 80er-Jahren standen in Folge des Strukturwandels vermehrt Gewerberäume, Fabriksgebäude und anderer Leerstand zur Verfügung, der von einer neuen Generation besetzt wurde. Einige davon bilden bis heute wichtige Orte für eine selbstbestimmte Alternativkultur und gesellschaftspolitisches Engagement wie Arena, WUK, Amerlinghaus oder EKH. Trotz ihres Stellenwerts für die Stadt mussten alle in den letzten Jahren um ihr Überleben kämpfen. Andere sind mit großer Brutalität geräumt worden wie etwa die Besetzungen in der Gassergasse und Aegidigasse. Insgesamt spielten Besetzungen in Wien im Vergleich zur Schweiz und Deutschland immer nur eine Nebenrolle. Der Umgang damit war und ist, bis auf eine kurze Phase, stets sehr restriktiv.[3] Damit blieb und bleibt ein interessanter Nährboden für gesellschaftliche Entwicklungen, den Besetzungen bilden können, in Wien stark unterentwickelt. Wie wichtig aber die Erfahrungen eines experimentellen und selbstbestimmten Umgangs mit (Frei)Räumen sind, zeigen die Gründungen der heute hochbeachteten, weil sozial und baulich höchst innovativen Zürcher WohnbauGenossenschaften oder des Mietshäuser Syndikats in Deutschland, die jeweils aus Hausbesetzungsbewegungen hervorgegangen sind (siehe auch das Interview mit Andreas Wirz in dérive 77, S. 6–12).
        Neue Räume in Wien entstehen derzeit im Umfeld von gemeinschaftlichen Hausprojekten, die aber bis auf wenige Ausnahmen relativ klein sind.[4] Ein weiterer Versuch, (sozio) kulturelle Räume zu schaffen, stellt das Konzept der Ankerzentren dar, mit dem die Wiener Kulturpolitik dezentrale kulturelle Angebote in die Randbezirke bringen will. Ob sich diese Orte zu Ressourcen für eine selbstbestimmte und aktive Stadt gesellschaft entwickeln werden, wird sich erst zeigen. Dass sie maximal eine längst nötige Ergänzung, aber sicher nicht ein Ersatz für bestehende zentrale Räume sein können, ist jedoch heute schon klar. Dominiert wird die aktuelle Debatte vom Thema Zwischennutzung, das in Wien noch immer als Allheilmittel gegen den steigenden Raumbedarf speziell für Kunst und Kreativwirtschaft gesehen wird. Vor allem aber wird Zwischennutzung sehr strategisch zur Attraktivierung von Stadtentwicklungsgebieten eingesetzt, immer unter dem Vorzeichen der großen Dankbarkeit der NutzerInnen und ohne jegliche Diskussion darüber, wer hier Werte schafft, und wer davon profitiert.
        In den letzten zwei Jahrzehnten sind auch in Wien viele genutzte oder potenziell nutzbare Räume verschwunden. Sie fallen der Stadtentwicklung oder dem Umstand zum Opfer, dass sich Immobilieninvestor*innen mittlerweile für Stadtgegenden und Objekte interessieren, die lange Zeit außerhalb von Entwicklungsinteressen standen. Die Ideologie der Ökonomisierung aller Lebensbereiche macht auch in Wien weder vor öffentlichen Räumen noch vor Räumen für künstlerische, soziale und gesellschaftliche Anliegen halt. Die generelle Inwertsetzung von Raum und Ressourcen verhindert die Entfaltung von gesellschaftlichen Potenzialen zur Lösung von Zukunftsfragen. Sie produziert soziale Ausschlüsse, gesellschaftliche Ungleichheit und demokratiepolitische Defizite. Die Verfügbarkeit von Raum für Tätigkeiten, die außerhalb einer monetären Verwertbarkeit liegen, ist damit eine hochpolitische Frage und berührt die Zukunft der städtischen Gesellschaft.

        Gemeingüter, Commons und PCPs
        Doch wie sollen und können unter den herrschenden Bedingungen hybride demokratische Räume für die urbane Gesellschaft entstehen? Interessante Ansätze liefert das Kon- zept der Gemeingüter oder Commons, das seit einigen Jahren eine viel beachtete Renaissance feiert. Die Potenziale der Commons, geteilter materieller Ressourcen, die einen Möglichkeitsraum jenseits von Staat und Privat eröffnen und damit die Eigentumsfrage neu verhandeln, werden in alle Richtungen erforscht und in ihrer Anwendung laufend erweitert. Unauflöslich damit verbunden ist die soziale Praxis des Commoning, der gemeinsamen, radikal-demokratischen Aushandlung und Verwaltung eben jener Ressourcen zum Vorteil aller. Immer mehr progressive europäische Städte widmen sich der Entwicklung eines Regelwerks für urbane Commons als Grundlage für Privat-Civic-Partnerships (PCPs), also einer Zusammenarbeit zwischen Stadtpolitik und Stadtgesellschaft auf Augenhöhe.
        In der vorliegenden Ausgabe werfen wir Schlaglichter auf einzelne Entwicklungen und Beispiele von demokratischen Räumen, die von Polen bis Argentinien und Brasilien reichen. Ein besonderer Schwerpunkt gilt auch Zürich, das mit den Gemeinschaftszentren sowohl über ein Netz von Einrichtungen verfügt, das sowohl eine breite Versorgung der Stadtbevölkerung mit Räumen garantiert als auch durch seine Geschichte der Besetzungen immer wieder viele Freiräume entstehen sah und sieht. Zum Thema Commons und Raum findet sich mit L200 ebenso ein Beispiel im Heft. Auch Polen verfügt, wie andere Länder des ehemaligen Ostblocks, über ein reiches Erbe an Kulturhäusern, die ein großes räumliches Potenzial bereithalten. Besonders beeindruckend sind die Beispiele aus Südamerika, die wir in diesem Schwerpunkt vorstellen: Die Nachbarschaftszentren in Argentinien ebenso wie die sozialen Museen und die SESCs in Brasilien.
        Die redaktionelle Arbeit an diesem Schwerpunkt hat gezeigt, dass es sowohl eine große Geschichte an demokratischen Räumen als auch wiederkehrendes Interesse daran gibt, es aber an umfassender und breiter Forschung zum Thema fehlt. Die meisten Forschungsarbeiten widmen sich einzelnen Phänomenen wie den Centri Sociali in Italien oder den Volksbildungseinrichtungen in Österreich, die Suche nach dem Gemeinsamen und Übergreifenden, die Analyse des gesellschaftlichen und demokratiepolitischen Potenzials existiert jedoch erst in Ansätzen. Einen kleinen Beitrag will dieser Schwerpunkt dafür leisten.

Fußnoten


  1. Ein Beispiel aus Wien: Für die Nutzung der Nordbahnhalle als soziokulturelles Stadtteilzentrum haben letztes Jahr innerhalb kürzester Zeit tausende Menschen eine Petition unterzeichnet. In der Umfrage einer Zeitung haben sich 67 Prozent der Nachbarschaft für den Erhalt ausgesprochen (siehe Laimer 2019). ↩︎

  2. Eine Ausnahme sind hier am ehesten die 1978 vom Verein Wiener Jugendzentren gegründeten Einrichtungen. ↩︎

  3. Das kolportierte Argument dafür lautet, dass Verhältnisse wie in Zürich (Züri brennt) verhindert werden sollten. ↩︎

  4. Das 2019 bezogene Hausprojekt Gleis21 hat einen beeindruckenden Kulturraum geschaffen, das Hausprojekt SchloR verfügt über eine große Halle. ↩︎


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Literaturliste

Literatur:

Ganglbauer, Stephan (2012): Bauten für die Volksbildung? Volkshochschulen, Volks- heime und Häuser der Begegnung in Wien. In: Spurensuche, Heft 1–4/2012. S. 192– 228. Laimer, Christoph (2019): Das Ende der Nordbahnhalle. In: dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 78, 4/2019, S. 47–52. Verfügbar unter: https://derive.at/texte/ das-ende-der-nordbahnhalle [Stand 23.08.2020]. Oldenburg, Ray (1997): The Great Good Place. Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons and other Hangouts at the Heart of the Community. Cambridge: Da Capo Press.