Die Einstecktuchisierung verrohter Bürgerlichkeit
Über die ›Neue Frankfurter‹ als politische Initiative von RechtsradikalenEin Bild von ebenso hohem Symbolwert wie unklarer Provenienz flottiert seit geraumer Zeit durchs Internet: Irgendein Dresdner – es darf wohl aus optischen Gründen angenommen werden: ein Dresdner Neonazi – hat sich originellerweise kein Hakenkreuz, keine SS-Runen oder Ähnliches auf den Rücken tätowieren lassen, sondern: ein Bild der 1726 bis 1743 nach einem Entwurf von Georg Bähr erbauten, im Feuersturm des 13. und 14. Februar 1945 ruinierten und schließlich 1994 bis 2005 wiederaufgebauten Frauenkirche zu Dresden.[^1] Darüber steht kein erwartbarer Nazi-Spruch wie »Meine Ehre heißt Treue«, sondern jener Beiname Dresdens, der sich ab Anfang des 19. Jahrhunderts einbürgerte und bis heute dem Citymarketing der sächsischen Landeshauptstadt international voraneilt: »Elbflorenz«. Das Bild bringt eine bis vor kurzem nur wenig beachtete, aber umso bedrohlichere Entwicklung der letzten Jahre auf den Punkt: Architektur – genauer: rekonstruierte Architektur – scheint zu einem Schlüsselmedium der autoritären, völkischen, geschichtsrevisionistischen Rechten geworden zu sein. Und das nicht nur in Dresden. Auch in anderen deutschen Städten verbergen sich hinter der einen oder anderen glänzenden Architekturoberfläche neu errichteter oder noch neu zu errichtender Geschichtsbilder ausgebuffte Machenschaften von Rechtsradikalen, die mithilfe eines scheinbar nur-ästhetischen Diskurses zunehmend politische Terraingewinne im lokalstolzen, aber teils eben auch politisch naiven Kulturbürgertum verbuchen können. Konkret: Im Anfang mindestens zweier zentraler Rekonstruktionsprojekte in Deutschland – nämlich der Garnisonkirche in Potsdam und der Neuen Altstadt in Frankfurt am Main – stehen die Worte von pseudo-konservativen Revolutionären, die mithilfe vermeintlich populärer Retrobauten versuchen, ihrem politischen Umsturzprojekt einen harmlosen, konservativ-bewahrenden Anstrich zu verleihen.
Nicht nur scheint Rekonstruktionsarchitektur zu einem Schlüsselmedium der Rechten geworden zu sein, auch hat sich in den letzten Jahren die Berichterstattung über Architektur in neurechten Medien deutlich intensiviert – was nicht zuletzt daran liegen mag, dass es heute insgesamt mehr Publikationsorgane aus diesem politischen Spektrum gibt als etwa noch vor zwanzig Jahren. Damals konnten rechtsradikale Kunsthistoriker wie Richard W. Eichler Bücher wie Die Wiederkehr des Schönen (1984) oder Baukultur gegen Formzerstörung (1999) nur im Schmuddelmilieu des vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachteten Tübinger Grabert-Verlages veröffentlichen. Heutzutage verfügen geistesverwandte Autor:innen über Publikationsmöglichkeiten mit wesentlich gepflegter daherkommender Optik, völlig unbeobachtet von Verfassungsschützer:innen. Vor allem die Berliner Zeitschrift Cato, die dem Junge-Freiheit-Umfeld entstammt, hat sich mit den bis dato erschienenen Ausgaben zum feintuerischsten unter den neuen gegenmodernen Magazinen entwickelt. So darf der in diesem Magazin häufig vertretene luxemburgische Architekt Léon Krier in Ausgabe 3 unter dem Titel Berufen oder arbeitslos nicht nur entschlossen Geniekult in eigener Sache betreiben, sondern auch noch eine rassistische Zeichnung aus eigener Fertigung veröffentlichen, welche »modernistischen Pluralismus« als quasi »entartet« diffamiert und »traditionellen Pluralismus« als »Rassereinheit« idealisiert. Die Einstecktuchisierung verrohter Bürgerlichkeit schreitet voran.
Luftbild der im Wiederaufbau befindlichen Garnisonkirche, 2023. Foto – Raimond Spekking & Elke Wetzig (CC BY-SA 4.0)David Irving und die Folgen
Die rekonstruktionsaffinen Programme der Pseudo-Kultiviertheit, die sowohl auf den Seiten von Cato wie auf dem tätowierten Rücken des Dresdners zu finden sind, arbeiten einem Deutschland zu, über das Philipp Oswalt einmal geschrieben hat, dass es »nicht von einer anderen Zukunft, sondern von einer anderen Geschichte« (Oswalt 2000, S. 56) träumen würde. Man könnte auch sagen: von einem Geschichtsrevisionismus, in dem Deutschland endlich nicht mehr Täter, sondern Opfer sein soll. Als historisch folgenträchtigster Stichwortgeber dieser Umwertungsbewegung darf der Brite David Irving gelten, der in Deutschland erstmalig 1963 mit seinem Publikumserfolg Der Untergang Dresdens bekannt geworden ist, auf den ein Jahr später dann Und Deutschlands Städte starben nicht folgte. Beide Bücher dokumentieren die zentrale Idee der »kulturellen Vernichtung« im Zweiten Weltkrieg – und versuchen fälschlicherweise Großbritannien die Schurkenrolle zuzuweisen. Bei Lichte betrachtet war es aber der deutsche Bombenangriff auf Coventry vom 14. November 1940 (der den zynischen Operationsnamen »Mondscheinsonate« trug), der zum Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges insofern wurde, als hier erstmals nicht Rüstungs- und Industrieanlagen zerstört werden sollten, sondern ein Kulturgut. Spätestens im April 1942 eskalierte dann die Situation, und Gustaf Braun von Stumm, Legationsrat im Auswärtigen Amt, gab bekannt, dass die deutsche Luftwaffe fortan jedes Gebäude in Großbritannien mit drei Sternen im Baedeker bombardieren werde (vgl. Grayling 2006). Schon bald warnten britische Medien vor den »Baedeker raids«, also den »Baedeker-Angriffen«, die die Moral der Zivilbevölkerung brechen sollten – aber genau den gegenteiligen Effekt hatten. Denn damit wurde endgültig eine Dynamik totaler Kollektive entfesselt, die schließlich im Herbst 1944 in der Zerstörung Dresdens ihren traurigen Höhepunkt finden würde. Vor diesem Hintergrund läuft die Propagierung eines deutschen Opfermythos von vornherein Gefahr, auf eine schiefe Bahn zu geraten. Wohin diese führen kann, zeigt die weitere »Karriere« Irvings, der zum Holocaust-Leugner wurde und in mehreren Ländern, darunter Deutschland, mit Einreiseverboten belegt ist.
Auf der von Irving und anderen zusammenmontierten Klaviatur aus Geschichtsrevisionismus, Bombardement-Viktimisierung, Täter-Opfer-Umkehr und Identitätsüberschuss spielen derzeit vor allem die zahllosen rekonstruktionsaffinen Stadtbildvereine ihr Lied der architektonischen Harmonie. Ohne historische Kontextualisierung wird etwa auf der Website des Dachverbands Stadtbild Deutschland e. V. beklagt: »Als innerhalb weniger Jahre die aberwitzige Menge von 1,3 Millionen Tonnen Spreng- und Brandbomben auf die jahrhundertealten Kerne deutscher Städte herabregnete, als sich mit den resultierenden flächenhaften Feuern bauliche Zeugnisse aus bis zu 30 Generationen in Asche und Staub verwandelten und so insgesamt 97 mitteleuropäische Stadtbilder aufhörten zu existieren, war noch kein einziges der Gründungsmitglieder von Stadtbild Deutschland geboren.« (vgl. https://verein-stadtbild-deutschland.org/anliegen-und-leitbild) Letzteres mag sein. Aber sollte es nicht gerade in den Verantwortungsbereich jüngerer Generationen gehören, nach den historischen Voraussetzungen zu fragen, die zu den Zerstörungen führten, statt einen Opfermythos zu perpetuieren? Es verwundert nicht, dass die geschichtsrevisionistische Großwetterlage, die sich auf der Website von Stadtbild Deutschland als vergangenheitsseliger Architekturpopulismus entlädt, auch Rechtspopulisten ein Podium bietet. So hat Harald Streck, Vorstandsmitglied des Vereins und bis Ende April 2018 auch dessen Bundesvorsitzender, die Erklärung 2018 mitunterzeichnet, in der Andreas Lombard und Karlheinz Weißmann gemeinsam mit Michael Klonovsky (dem persönlichen Referenten des AfD-Politikers Alexander Gauland), Dieter Stein (Gründer, Chefredakteur und Geschäftsführer der Jungen Freiheit) und anderen Rechten gegen »illegale Masseneinwanderung« wettern. So postet auch Stadtbild-Deutschland-Vorstandsmitglied Markus Rothhaar (im Hauptberuf Inhaber der Stiftungsprofessur für Bioethik an der Katholischen Universität Eichstatt) in Sozialen Medien bevorzugt Artikel aus Tichys Einblick, kritisiert Diversitätskonzepte in Unternehmen, beklagt den kritischen Umgang mit Rolf Peter Sieferles rechtsradikalem Spätwerk und schimpft über den »Mehltau von Gesinnungsschnüffelei, Denunziation und Pseudomoralismus«, den Angela Merkel und ihre »Handlanger aus Presse, Kirchen und Politik über das Land gelegt« hätten. Und das Stadtbild-Deutschland-Vorstandsmitglied Manuel Reiprich beschimpft auf Facebook den CDU-Politiker Ruprecht Polenz als »senil«, weil dieser die Pegida-Nähe des AfD-Politikers Tino Chrupalla kritisierte.
Der Nexus von rechtem Gedankengut, Geschichtsrevisionismus und Rekonstruktionsengagement kann besonders gut bei dem vom Stadtbild Deutschland e. V. vehement unterstützten Wiederaufbauprojekt der Garnisonkirche in Potsdam nachvollzogen werden. Das 1735 durch Johann Philipp Gerlach erbaute, im Zweiten Weltkrieg stark zerstörte und im Jahre 1968 dann abgerissene Gotteshaus war in der DDR zum »Symbol des deutschen Militarismus« avanciert – auch weil die Kirche in der Weimarer Republik in nationalistischen, antidemokratischen und rechtsradikalen Kreisen äußerst beliebt war (vgl. Grünzig 2017) – und sie entsprechend am 21. März 1933 zum Ort des berüchtigten Hitler-Hindenburg-Handschlags, also zur Allianzstätte von Nationalsozialisten und konservativen Deutschnationalen auserkoren wurde. Das Rekonstruktionsvorhaben geht auf Aktivitäten der Iserlohner Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel e. V. und ihres ehemaligen Vorsitzenden Max Klaar zurück, einem Oberstleutnant a. D., der ab Mitte der 1980er-Jahre nicht nur das Glockenspiel der Garnisonkirche nachbauen ließ, um es 1991 dann offiziell der Stadt Potsdam in einem Festakt zu überreichen, sondern auch sechs Millionen Euro für die Komplettrekonstruktion der Garnisonkirche sammelte – aber bitte »nicht für eine, in der Schwule getraut oder Kriegsdienstverweigerer beraten werden« (zit. nach Weidner 2012). Klaar, der wiederholt die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Frage stellte und mit seinem Verband deutscher Soldaten und der Zeitschrift Soldat im Volk vom Bundesverteidigungsminister als rechtsextrem eingestuft wurde, zog sich zwar 2005 aus dem Rekonstruktionsprojekt zurück, aber erfolgreich war er dennoch: Seit 2017 ist die Kirche im Bau – gestützt von einer breiten Koalition aus Kirchen, Wirtschaft, öffentlichem Leben und Politik, vor allem auch der AfD. Wissenschaftlich begleitet wurde das Rekonstruktionsvorhaben u. a. vom Kunsthistoriker Peter Stephan, der 2015 als Professor für Architekturtheorie und Geschichte der Architekturtheorie der Fachhochschule Potsdam ein Symposium zur Garnisonkirche durchführte – in Kooperation mit der Stiftung Garnisonkirche Potsdam und der Fördergesellschaft für den Wiederaufbau. Stephans politische Positionen sind durch die Facebook-Publizistik des Wissenschaftlers bekannt geworden, die von Pegida-Verstehertum, Kreuzzüge-Verharmlosung sowie Islamhass geprägt ist.
Die Neue Frankfurter Altstadt als politische Initiative von Rechtsradikalen
Während in Potsdam mit der Garnisonkirche die Initiative eines Rechtsradikalen einen (wenngleich höchst symbolischen) Einzelbau zur Folge hatte, führte sie in Frankfurt am Main mit der Neuen Altstadt zum zentralen Stadtteil der wichtigsten kontinentaleuropäischen Finanzmetropole. Denn es war der rechtsradikale Autor Claus M. Wolfschlag, der im September 2005 als Fraktionsmitarbeiter des Stadtverordneten Wolfgang Hübner von den Freien Wähler BFF (Bürgerbündnis für Frankfurt) den ersten parlamentarischen Rekonstruktions-Antrag mit der Nummer 1988 formulierte. Der wurde im Stadtparlament zwar mit breiter Mehrheit abgelehnt, jedoch ist darin genau das beschrieben, was später die schwarzgrüne Koalition ab 2006 auf den Weg brachte. In der Folge wurde noch im selben Jahr der BFF-nahe Verein Pro Altstadt e. V. gegründet (heute ein »befreundeter Verein« des Stadtbild Deutschland e. V. unter dem Vorsitz von BFF-Mitglied Cornelia Bensinger), sodann der kurz zuvor noch preisgekrönte Wettbewerbsentwurf von KSP Jürgen Engel Architekten für das Areal gekippt – und nach und nach der Weg frei gemacht für die Rekonstruktion von fünfzehn Altstadthäusern zwischen Dom und Römer. Die Website des Pro Altstadt e. V. benennt noch heute Wolfschlag und Hübner als »Väter der Wiederaufbau-Initiative«. Zurecht. Auf die Frage, ob er sich als »Vater der Neuen Altstadt« sieht, antwortete Wolfschlag einmal: »Das Ganze lag ja wie eine Gaswolke in der Luft.«. »Es brauchte nur noch einen, der das Streichholz anzündet. Und das war ich.«[1]
Wolfschlags zündende Idee hatte leichtes Spiel in einer Metropole, in der Musealisierungs- und Historisierungstendenzen in der Altstadt schon um 1900 einsetzten.[2] Nach 1945 war es vor allem die 1951 abgeschlossene Rekonstruktion des Goethehauses im Großen Hirschgraben durch Theo Kellner, die als »Schlüsselbau lokaler und nationaler Selbstverortung nach der ›Stunde Null‹« (Welzbacher 2010, S. 63) gelten darf. Walter Dirks, Mitherausgeber der Frankfurter Hefte, gehörte zu den artikuliertesten Gegner:innen dieser Rekonstruktion. Er begründete seine ablehnende Haltung damit, dass nur die Schicksalsannahme goethe-würdig sei; dass es entscheidend sei, »die Kraft zum Abschied [zu] haben, zum unwiderruflichen Abschied«; dass man »sich selbst und niemandem in frommer Täuschung vorschwindeln« sollte, das Haus sei »eigentlich doch da« (zit. nach Rodenstein 2010, S. 434). Hinter Dirks Haltung stand – aus heutiger Sicht völlig zurecht – die Sorge, dass man mit einer Rekonstruktion die Spuren des Nationalsozialismus und damit auch der eigenen Schuld löschen wollte (vgl. ebd). Wenig später ging Frankfurt erst so richtig in die geschichtsrevisionistischen Vollen, und zwar mit der Rekonstruktion der Ostzeile des Römerbergs, die von 1981 bis 1983 erfolgte. Unter größtem Protest vieler Architekt:innen und Denkmalpfleger:innen und auf dünnster bauhistorischer Informationsgrundlage entstand ein Quartier teils frei erfundener Geschichtssimulation. Das Frankfurt unter Oberbürgermeister Walter Wallmann zwischen 1977 und 1986, in das die Komplettierung der Ostzeile fällt, stellt den ersten Versuch einer westeuropäischen Stadt dar, das Lokale mittels historisierender Referenzen in den Dienst einer globalen Standortpositionierung zu stellen (vgl. Bideau 2011, S. 90).
Eine neoliberale Standortpositionierung, die derzeit Gefahr läuft, gleichsam durchzudrehen. Denn mit ihr könnten illiberale Ideologeme in den Mainstream vermeintlich kultursinniger Stadtbürgerlichkeit eingespeist werden. Für nichts anderes steht Wolfschlags Architekturtheorie, die zusammengefasst in dem Aufsatz Heimat bauen von 1995 vorliegt. Sie ist von xenophoben und misogynen Auffassungen geprägt und hebt vor allem auf die zentrale Rolle von Architektur und Städtebau bei den Konstruktionen von ›Volk‹ und ›Heimat‹ ab. Exakt zehn Jahre nach diesem im Umfeld von NPD-Aktivisten, Neonazis und Holocaust-Leugnern veröffentlichten Aufsatz schluckte der Autor Kreide, warb mit seinem Altstadt-Rekonstruktionsantrag der BFF-Fraktion erfolgreich für eine ›Stadtheilung‹, für die Rückgewinnung einer Frankfurter ›Seele‹ – um dann in einem 2007 erschienenen Artikel in der Quartalszeitschrift Neue Ordnung, die das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes im Rechtsextremismus verortet, wieder ideologisch die Katze aus dem Sack zu lassen: Unter dem Titel Rekonstruktion. Zur Wiedergewinnung architektonischer Identität ruft Wolfschlag zum Ende des »Schuldkultes« mithilfe einer »Wiedergewinnung des historischen Bauerbes« auf (Wolfschlag 2007, S. 25.).
Eindimensionales Heile-Welt-Gebaue
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier weder um einen Aufruf zum Abriss von Fachwerkhäusern[3] noch darum, allen Unterstützer:innen von Rekonstruktionen rechtes Gedankengut zu unterstellen. Ebensowenig geht es darum, Rekonstruktionen als solche zu skandalisieren. Rekonstruktionen im Sinne von Wiederherstellungen nach Katastrophen und Kriegen sind eine historische Selbstverständlichkeit. So brachte der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg eine beachtliche Bandbreite verschiedenster kulturell überzeugender Architekturpositionen hervor (vgl. Falser 2009, S. 60), von denen gerade die »Kompromissformen« (ebd.) zwischen den beiden Extrempositionen ›idealisierende Rekonstruktion‹ und ›Abriss von Kriegsruinen und moderner Neubau‹ – denkt man etwa an Rudolf Schwarz’ Paulskirche in Frankfurt am Main (1947–1948) oder an Hans Döllgasts Alte Pinakothek in München (1946–1957) – zu Meisterwerken von bleibendem Wert führten. Nicht zuletzt auf diese Vorbilder berief sich denn auch das Team um David Chipperfield bei der Rekonstruktion des Neuen Museums in Berlin (1996–2009), mit der der gänzlich zerstörte Nordwestflügel und der Südostrisalit in enger Anlehnung an die ursprünglichen Volumina und Raumfolgen neu errichtet und die erhaltenen Bauteile restauriert und ergänzt wurden. Entstanden ist ein virtuoses Amalgam von Vergangenheit und Gegenwart, das die Brüche der Geschichte sichtbar hält und auch künftigen Generationen komplexes Anschauungsmaterial für die Diskontinuitäten der Zeitläufte bietet. Ganz anders die Neue Frankfurter Altstadt: Zu skandalisieren ist hier, dass die Initiative eines Rechtsradikalen ohne nennenswerte zivilgesellschaftliche Gegenwehr zu einem aalglatten Stadtviertel mit scheinbar bruchlosen Wiederholungsarchitekturen führte; historisch informiertes Entwerfen verkommt damit zum unterkomplexen Heile-Welt-Gebaue, das der Verblendung seiner Liebhaber zuarbeitet, indem es Geschichte auf ein eindimensionales Wunschkonzert reduziert. Vergangenheit soll für dieses Publikum wie geschmiert laufen, und zwar in Richtung einer alternativen Historie für Deutschland. Einer Historie, in der der Nationalsozialismus, die deutschen Angriffskriege und der Holocaust maximal Anekdoten zu werden drohen.
Der vorliegende Artikel ist Stephan Trübys Publikation Rechte Räume. Politische Essays und Gespräche, 2020 als Band 169 in der Reihe Bauwelt Fundamente bei Birkhäuser erschienen, entnommen.
Stephan Trüby ist Professor für Architekturtheorie und Direktor des Instituts Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter u. a. Geschichte des Korridors (2018), Absolute Architekturbeginner: Schriften 2004–2014 (2017), Germania Venezia (2016, gem. mit Verena Hartbaum). Darüber hinaus veröffentlicht er regelmäßig Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften.
So Claus Wolfschlag in einem Gespräch mit Philipp Sturm und Moritz Röger. Für die Hinweise zum BFF-Antrag, seinem Verfasser Claus M. Wolfschlag und der Gründung des Pro Altstadt e. V. danke ich Philipp Sturm. Er führte gemeinsam mit Moritz Röger ein Gespräch mit Wolfschlag ↩︎
In den 1920er-Jahren etwa wurde die Frankfurter Altstadt zum kompensatorischen Pendant des Neuen Frankfurts vor den Toren der Stadt (vgl. Welzbacher 2010, S. 63). ↩︎
Dem Verfasser wurde dies in einer bewusst desinformierenden Replik auf »Wir haben das Haus am rechten Fleck gebaut« von Roland Tichy unterstellt (vgl. Tichy 2018). ↩︎
Stephan Trüby ist Professor für Architekturtheorie, Direktor des Instituts Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart und Autor.
Bideau, André (2011): Architektur und symbolisches Kapital. Bilderzählungen und Identitätsproduktion bei O. M. Ungers. Bauwelt Fundamente 147, Basel: Birkhäuser, S. 90.
Falser, Michael S. (2009): »Trauerarbeit in Ruinen. Kategorien des Wiederaufbaus nach 1945«. In: Braum, Michael & Baus, Ursula (Hg.): Rekonstruktion in Deutschland. Positionen zu einem umstrittenen Thema. Basel: Birkhäuser, 2009, S. 60.
Grayling, A. C. (2006): Among the Dead Cities. London: Bloomsbury Publishing PLC.
Grünzig, Matthias (2017): Für Deutschtum und Vaterland. Die Potsdamer Garnisonkirche im 20. Jahrhundert. Berlin: Metropol.
Oswalt, Philipp (2000): Stadt ohne Form, Strategien einer anderen Architektur. München, London, New York: Prestel, S. 56.
Rodenstein, Marianne (2010): »Goethehaus, Frankfurt am Main«. In: Nerdinger, Winfried (Hg.): Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte, München: Prestel, S. 434.
Tichy, Roland (2018): »Jagd auf Rechte. Jetzt sind die Fachwerkhäuser dran!«. In: Tichys Einblick, 12. April 2018; www.tichyseinblick.de/tichys-einblick/jagd-auf-rechte-jetzt-sind-die-fachwerkhaeuser-dran/.
Weidner, Anselm (2012): »Kirchlicher Glanz für militärisches Gloria«. In: taz, 13. Oktober 2012; www.taz.de!550903
Welzbacher, Christian (2010): Durchs wilde Rekonstruktistan. Über gebaute Geschichtsbilder. Berlin: Parthas, 2010, S. 49.
Wolfschlag, Claus M. (2007): »Rekonstruktion. Zur Wiedergewinnung architektonischer Identität«. In: Neue Ordnung, Nr. 1/2007, S. 25.
Alle Internetquellen wurden zuletzt am 20. April 2020 abgerufen.