Gesellschaftsanalyse durch Ortsbegehungen
Besprechung von »Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart« herausgegeben von Nadine Marquardt und Verena SchreiberWas verbindet den Stall mit dem Spa, den Coworking Space mit dem Reservat und die Gated Community mit dem Castor? Das Ortsregister versucht genau diese Frage zu beantworten. Dabei werden Begrifflichkeiten mit räumlicher Bezugnahme und deren Verwendung in aktuellen Diskursen entschlüsselt. Auf diese Weise sollen gesellschaftliche Verhältnisse offen gelegt und gegenwärtige Entwicklungen analysiert werden. Erklärte Absicht ist es, »die gesellschaftliche Wirklichkeit gewissermaßen transversal anzugehen und an ganz unterschiedlichen Orten den vielgestaltigen Konstellationen nachzuspüren, aus denen sich die Erfahrung der Gegenwart zusammensetzt« (Marquardt/Schreiber, S. 10).
Die Herausgeberinnen Nadine Marquardt und Verena Schreiber – beide wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main – versammeln in ihrem Band 46 abwechslungsreiche Beiträge, die von WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsfeldern verfasst wurden. Neben GeographInnen und SoziologInnen kommen unter anderem ForscherInnen aus den Bereichen Geschichte, Philosophie sowie Politik-,
Kunst- und Medienwissenschaft zu Wort.
Den Beiträgen gemein ist, dass sie sich mittels sozial-, geistes-, kulturwissenschaftlicher Analyse Raumbegriffen nähern, die in den letzten Jahren im politischen Diskurs sowie im alltäglichen Sprachgebrauch weite Verbreitung erfahren haben. Ein weiteres verbindendes Element ist, dass nur eine Auswahl jener Orte aufgenommen wurde, »deren Begehung auch eine Annäherung an die vielfältigen räumlichen Muster und Verflechtungen der Gegenwart verspricht« (S. 9), wie die Herausgeberinnen im Vorwort betonen.
An den ausgewählten Orten (wie z. B. dem Business Improvement District oder dem Toleranzgebiet) wird das Zusammenspiel von Gesellschaft, Kultur und Raum besonders deutlich. Durch die Verwendung von räumlichen Metaphern, welche Sachverhaltsdarstellungen verein-fachen, diese aber gleichzeitig überschreiben und einen Interpretationsansatz vorlegen, erfahren Begriffe eine zusätzliche Aufladung. So ist z. B. das Finanzparkett »als Ort von Sozialität (…) mit anderen Orten vergleichbar. Das bedeutet in erster Linie, dass nicht jede_r Zutritt hat. (…) Denn noch heute walten Prozeduren der Schließung, was im Begriff der ›geschlossenen Fonds‹‹Ausdruck findet. Es handelt sich hier um Investmentfonds, an denen man nur auf Einladung partizipieren kann« (Langenohl, S. 108).
Diese Begrifflichkeiten werden in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammengesetzt. Am Ende steht zwar derselbe Begriff, dieser ist jedoch nicht mehr der gleiche. Diese Re-Konstruktion macht deutlich, dass Begriffe niemals unschuldig, neutral oder objektiv sind, sondern dass diese in komprimierter Form das politische Programm oft vielschichtiger Interessenkoalitionen, gesellschaftlicher Antagonismen und ideologisch geprägter Weltdeutungen widerspiegeln.
Die Programmatik der Begriffe zu veranschaulichen und ihre Verflechtungen aufzuzeigen, liegt dem Sammelband als Ziel zugrunde. Die Herausgeberinnen erheben keinen Anspruch auf vollständige Katalogisierung, vielmehr sollen die Beiträge Denkanstöße liefern. Trotzdem decken die analysierten Begriffe und Orte thematisch fast das ganze Leben ab: von der Zeugung (in vitro) über Wohnen (Banlieue, Kiez), Bildung (Bildungslandschaft), Arbeit (Maquiladora, Labor), Freizeit (Outdoor, Lounge, Fanmeile), Sex (Dark Room), Reise (Terminal, Asyl, Diaspora) und Krankheit (Quarantäne) bis
zum Tod (Friedwald).
Nicht ausschließlich, jedoch häufig fassen die ausgewählten Begriffe Konzepte von Grenzen und Rändern (Borderlands, Niemandsland), von Krisen und Ausnahmesituationen (Evakuierungszone, Krisenregion). Dies wird nicht zuletzt dadurch sichtbar, dass auch inflationär verwendetes Vokabular aus dem wirtschaftlichen Krisendiskurs Einzug in den Sammelband gefunden hat (Spekulationsblase, Offshore).
Die vermeintlichen Orte der Anormalität, an welchen gesellschaftliche Widersprüche besonders deutlich hervortreten, werden hier als Symptom der gesellschaftlichen Verfasstheit betrachtet. So meint beispielsweise Anselm Wagner in seinem Beitrag zur Deponie bezüglich des sich verändernden gesellschaftlichen Verständnisses von Müll: »Die paradoxe Verortung des Abfalls im Un-Ort Deponie führte zwangsweise zu einer Beschäftigung mit dem Müll, die sich nicht aufs bloße Wegschaffen und Vernichten beschränkte und damit letztendlich zu seiner Anerkennung als Teil des Systems namens moderner Produktionsprozess führte.« (S. 87)
Gerade an jenen Orten, die eine Relevanz für das Funktionieren von Gesellschaft haben und wo sich gesellschaftliche Konflikte deutlich abzeichnen, bestehen auch immer Möglichkeitsspielräume zur Neuordnung. Obwohl in vereinzelten Beiträgen auf soziale Bewegungen, die aktuelle Raumhierarchien herausfordern, verwiesen wird, kommen andere Beiträge nicht weit über eine Beschreibung des Status quo hinaus.
Die maximal acht Seiten umfassenden Texte sind teils essayistisch, teils wissenschaftlich und teils literarisch gehalten. Sie bieten einerseits Zusammenfassungen der Diskurse, die sich rund um bestimmte Sachverhalte entsponnen haben, für welche die abgehandelten Begriffe als Schlagworte dienen. Andererseits gewähren sie Einblicke in die wissenschaftlichen Diskussionen und theoretischen Annäherungen an eben jene Beobachtungen.
Ebenso breit wie die gewählten Zugänge zu den Diskursen ist auch die adressierte LeserInnenschaft. Während sich dem Laien eventuell neue Sichtweisen auf die gewohnte Umgebung auftun, dürfte sich die Kennerin jedoch streckenweise ein wenig langweilen. Der Band ist trotzdem, vor allem wegen seiner prägnanten Analysen konkreter Orte, lesenswert und eignet sich ob der kurz gehaltenen Beiträge besonders als Lektüre für zwischendurch.
Mirjam Pot