Gerhard Rauscher


Die Beschäftigung mit der architektonischen Formensprache, durch die Herrschaft in der NS-Zeit und im italienischen Faschismus repräsentiert und bestimmte Politikfelder architektonisch und städtebaulich zum Ausdruck gebracht wurden, bildet den Ausgangspunkt des Sammelbandes NS-Architektur: Macht und Symbolpolitik. Kultur und Technik, herausgegeben von Tilman Harlander und Wolfram Pyta. Dokumentiert werden die Beiträge des gleichnamigen Symposiums, das im Juni 2009 von den beiden Herausgebern des Buches gemeinsam mit dem Architekturhistoriker Werner Durth an der Universität Stuttgart veranstaltet wurde.
Im NS-Baugeschehen vollzog sich ein »partieller Modernisierungsprozess«, der die anfänglichen antimodernen und großstadtfeindlichen Strömungen ablöste. Angesichts der wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten war das nachvollziehbar, das Primat von Leistungssteigerung und Ausbau der Rüstungsindustrie erforderte rationellere Produktionsabläufe in allen Bereichen. Von Modernisierung kann in diesem Zusammenhang jedoch nur sehr eingeschränkt gesprochen werden, da – wie sich die meisten HistorikerInnen einig sind – das eigentliche Ziel der NS-Politik eine vor- bzw. antimoderne Gesellschaft war.
Die Beiträge des Bandes behandeln die gebaute Symbolpolitik faschistischer Regime aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Christoph Raichle etwa stellt die Frage, wie durch Architektur politische Botschaften transportiert werden und wie Bauten politisches Charisma schaffen und vermehren. Er beschreibt fünf Funktionen von Architektur, mit denen der Charismatiker symbolisches Kapital generieren kann.
Werner Durth beschreibt die Schlüsselrolle, die Architektur und Städtebau in der Selbstdarstellung des NS-Regimes spielten. Hitler betrachtete sich als »oberster Baumeister des Reiches«, dementsprechend setzte er Behörden ein, die ihm in unmittelbarer Befehlsgewalt unterstanden und die seine Um- und Neugestaltungspläne auszuführen hatten.
Der Städtebau im faschistischen Italien hatte – wie Harald Bodenschatz darlegt – einen etwas anderen Stellenwert. Die Neubauten in Rom mussten sich den historischen Monumenten unterordnen, sie waren weniger vordergründig mit machtbeladener Symbolik behaftet. Die Rezeption von Architektur und Städtebau der Mussolini-Zeit erfolgt seit den 1970er Jahren in Italien zunehmend unkritisch. Bodenschatz stellt die Frage nach der Zulässigkeit einer Diskussion, die die Form – das Produkt – getrennt von den Produktionsverhältnissen – dem faschistischen Regime – betrachtet.
Michael Flagmeyer und Emanuel Hübner behandeln in ihren Beiträgen gebaute Objekte aus der NS-Zeit: die Ordensburgen der Deutschen Arbeitsfront und ein Mannschaftsgebäude des olympischen Dorfes in Berlin von 1936. Diskutiert werden der Erinnerungswert solcher Bauten und die Frage, welchen Beitrag derartige Orte für ein tieferes Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Vorgänge der 1930er und 40er Jahre liefern könnten.
Das Architekturbüro Rimpl war in der NS-Zeit das größte seiner Art und beschäftigte über 1.000 MitarbeiterInnen. Bis heute jedoch fehlt eine wissenschaftliche Zusammenstellung der Tätigkeiten dieses »Architekturkonzerns«. Jo Sollich beschreibt das Wachsen des Büros und die Verflechtungen von Herbert Rimpl mit der NS-Führungsriege.
Die Deutsche Akademie für Wohnungswesen war ein wichtiges Bindeglied im Wohnungs- und Bauwesen von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik Deutschland. Arne Keilmann zeichnet die Entwicklung der Akademie nach, die sich für die Verbesserung der Wohnverhältnisse der Bevölkerung eingesetzt hatte und zu einer Einrichtung wurde, die sich vor allem mit Bautechnik und Normierung im Dienste des NS-Staates befasste.
Mit der Stadt Stuttgart und den NS-Neugestaltungsplänen als »Stadt der Auslandsdeutschen« beschäftigt sich Roland Müller. Von der Stuttgarter Architekturschule und deren Entwicklung 1919 bis 1945 handelt Dietrich W. Schmidts Beitrag.
Der Brückenbau der deutschen Reichsautobahnen und der Architekt Paul Bonatz sind die Themen in Roland Mays Artikel Von der Ingenieurästhetik zur Monumentalarchitektur. Bonatz – unter anderem Architekt des Stuttgarter Hauptbahnhofes (1914 –22) – hatte großen Einfluss gewonnen, als er 1935 von Fritz Todt als künstlerischer Berater des Autobahn-Brückenbaus engagiert wurde. Seine Rolle wurde auch nach der NS-Zeit gewürdigt, denn es sei sein Verdienst gewesen »die starre Trennung von Ingenieur und Architekt überwunden zu haben«. Bonatz wird von May jedoch als Beispiel eines Architekten angeführt, der mit seiner vermeintlich unpolitischen Tätigkeit als Architekt große Anpassungsbereitschaft an das nationalsozialistische Regime bewies und diesem symbolisches Kapital lieferte. Eine persönliche Aufarbeitung seiner Verantwortung für den Einsatz von ZwangsarbeiterInnen auf den Brückenbaustellen fand nie statt.
Wolfgang Voigts Beitrag beschreibt deutsche Planungen und Bauten im annektierten Elsass 1940 – 44. Die Planer hatten dort nach der Besetzung freie Hand und ein großes Betätigungsfeld, die neue Administration hatte noch relativ wenig Einfluss und musste erst aufgebaut werden.
Mit dem Nationalökonomen August Lösch und dem Geographen Walter Christaller beschäftigt sich Karl R. Kegler in seinem Artikel. Lösch hatte mit seinem Werk Die räumliche Ordnung der Wirtschaft einen Klassiker der Nationalökonomie geschrieben, der erst 2001 wieder neu aufgelegt wurde. Nur selten wird dieser jedoch in den politischen Kontext seiner Entstehungszeit gestellt. Die Verbindung von Wirtschafts-, Großraum- und Bevölkerungsökonomie muss als typisches Thema nationaler und völkischer Wissenschaft im ideologischen Kontext des NS-Staates gewertet werden. Walter Christaller, bekannt als Begründer der Zentrale-Orte-Theorie, entwarf mit seinem Modell sozusagen eine rationale Vorgabe für Bevölkerungsverschiebungen. Das Modell wurde von den NS-Machthabern benutzt. Der Zugriff auf Menschen und Räume konnte als planbare und wissenschaftlich legitimierbare Normalität verkauft werden. Noch heute, im Jahr 2011, werden die Theorien von Lösch und Christaller an verschiedenen Universitäten gelehrt – in den meisten Fällen ohne sie in einen historischen und politischen Kontext einzubetten –, als seien sie in einem gesellschaftspolitischen Vakuum entwickelt worden.
Im letzten Beitrag des Buches beschreiben Wendelin Strubelt, Jörg Blasius und Detlef Briesen die Entwicklung und die Themen von Raumforschung und Raumplanung in Deutschland. Sie konstatieren einen erheblichen Forschungsbedarf zu den systemischen Zusammenhängen von Raumplanung, Raumforschung und Raumentwicklung und entwerfen einen Arbeitsplan zur Lösung dieser Forschungsaufgaben.
Das lesenswerte Buch sollte dazu motivieren NS-Architektur und personelle Verflechtungen und Kontinuitäten auch in Österreich verstärkt unter die Lupe zu nehmen. Eine detaillierte Aufarbeitung dieses Teils der NS-Geschichte ist hoch an der Zeit und längst überfällig. Nach 1945 wurde erst ein Symposium zu dieser Thematik in Österreich abgehalten: Im September 2006 veranstaltete das Architekturzentrum Wien gemeinsam mit dem Bundesdenkmalamt das Symposium Erbe verweigert, Österreich und NS-Architektur.


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