» Texte / Perspektiven eines kooperativen Urbanismus

Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.

Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.


Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im Alltag wie Informationen zur Verfügung stellen, Dinge verborgen, mit Rat und Tat zur Seite stehen oder Feste gemeinsam feiern. Diese nichtkommerziellen Formen der Kooperation bilden die Basis des menschlichen Zusammenlebens. Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens würden ohne diesen elementaren Kommunismus nicht funktionieren. Das gilt sowohl für den normalen Alltag als auch für Ausnahmesituationen wie beispielsweise die aktuelle Flüchtlingskrise. Man möchte sich gar nicht ausmalen, mit welcher menschlichen Katastrophe wir konfrontiert wären, gäbe es nicht die beeindruckende Zusammenarbeit von NGOs, Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfern und Helferinnen an den Grenzen, Bahnhöfen, Flüchtlingsunterkünften. Wie die kommerzielle und polit-bürokratische Variante der Betreuung von AsylwerberInnen funktioniert, zeigen uns die Firma ORS und die politischen Verantwortlichen in Bund und Ländern, die alles andere als kooperativ sind, seit Monaten und Jahren im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und der unerträglichen Debatte um die Unterbringung von AsylwerberInnen.

Die Wirkmächtigkeit des kapitalistischen Realismus

Ähnliche Beispiele für spontane, bottom-up-organisierte Hilfe in Kooperation mit Hilfsorganisationen gibt es zuhauf und immer wieder zeigt sich, dass warenförmiger Austausch und Konkurrenz in unmittelbaren Katastrophensituationen zu langsam, zu kompliziert und deswegen schlicht ungeeignet sind oder wie im Falle des kommerziellen Schlepperwesens gefährlich und teuer. Der elementare Kommunismus ist also nicht irgendeine Träumerei weltfremder UtopistInnen sondern Voraussetzung und Basis für das Funktionieren der Gesellschaft. Trotzdem steht er unter ständigem Druck und muss sich gegen die Einspeisung in die kapitalistische Verwertungsmaschinerie zur Wehr setzen. Selbst in Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die normalerweise nicht im Verdacht revolutionären Aufbegehrens stehen, machen sich JournalistInnen mittlerweile Sorgen um die »letzten Brachen sinnfreien Vorsichhinlebens« (ja, auch die sind gefährdet), die die »kapitalistische Logik« zu verschlingen droht: »Das war schon immer der Trick des Kapitalismus: Uns zu verkaufen, was es vorher umsonst gab. Jetzt hat er die neueste Marktlücke entdeckt: den Kommunismus.« (Staun 2013)
Obwohl – abgesehen von ein paar übereifrigen neoliberalen MusterschülerInnen – die Mehrheit der Menschen ihre konkurrenzbefreiten, nichtkommerziellen Oasen des Alltags wohl kaum opfern wollen würde, gilt das kapitalistische Wettbewerbssystem dennoch weithin als unverzichtbar und notwendig – sozusagen als Normalzustand. Ideologien bringen es mit sich, dass nicht nur BefürworterInnen an ihre allumfassende Wahrheit glauben, sondern es auch GegnerInnen schwer fällt, des Kaisers neue Kleider als Schwindel zu erkennen. Die viel zitierte Bemerkung von Frederic Jameson, dass es einfacher sei, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen, bringt auf den Punkt, wie schwer es ist, Alternativen außerhalb des herrschenden Systems zu denken. Kapitalistischen Realismus nennt der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher diese Wirkmächtigkeit, diese »alles durchdringende Atmosphäre, die nicht nur die Produktion von Kultur bestimmt, sondern auch die Regulierung von Arbeit und Bildung, die zudem als eine Art unsichtbare Barriere fungiert, die das Denken und Handeln hemmt« (Fisher 2013). So verwundert es nicht, dass KritikerInnen des Wettbewerbssystems die Durchdringung der Gesellschaft mit Konkurrenzdenken als umfassender wahrnehmen, als sie tatsächlich ist. Mit ein Grund, warum auch die Möglichkeiten für Veränderung oft nicht erkannt oder unterschätzt werden.
Von PaläoanthropologInnen wissen wir, dass Kooperation schon am Beginn der Menschheitsgeschichte stand. In Studien weisen sie darauf hin, dass der Homo Sapiens sich u.a. durch »increased social cooperation« (Antón et al. 2014) von anderen Arten der Gattung Homo unterschieden hat – ohne Kooperation kein Homo sapiens sapiens. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit ist einer der Hauptgründe, warum es Menschen gelang und gelingt, unter widrigsten Bedingungen zu überleben. »Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist also kein Zusatz, sondern konstitutives Merkmal der Natur des Menschen.« (Meretz 2012) Fragt sich nur: »Warum konnten sich dennoch ›Konkurrenzverhältnisse‹ etablieren? Weil sich der Homo sapiens das irgendwann ›leisten konnte‹, also mehr produzierte, als für das unmittelbare Überleben erforderlich war. Eine nichtproduzierende herrschende Klasse konnte sich etablieren. Basis von klassenförmig oder wie auch immer strukturierten Konkurrenzverhältnissen ist dabei stets die gesamtgesellschaftliche Kooperation. Konkurrenz und Kooperation bilden folglich keinen Gegensatz, sondern ein Verhältnis. Konkurrenz und Kooperation sind jedoch nicht gleichursprünglich, sondern Konkurrenz setzt Kooperation voraus, was umgekehrt nicht gilt.« (ebd.)

Foto: Jeanne Menj
Foto: Jeanne Menj

Sand im Getriebe der Verwertungsmaschinerie

Dem ständig nach neuen Verwertungsmöglichkeiten Ausschau haltenden Kapital ist das Prinzip des Wettbewerbs und der Konkurrenz unauslöschlich eingeschrieben – Konkurrenz ist seine innere Natur, schrieb Karl Marx. Die freie Konkurrenz der Individuen, der Wettbewerb der Ideen gelten heute als Voraussetzung jeglicher Innovation. Seit der Neoliberalismus zur Leitideologie unseres Gesellschaftssystems geworden ist und der Prozess der Inwertsetzung sich anschickt, die letzten weißen Flecken auf der Landkarte der Menschheit zu erobern, finden sich auch die Städte im Wettbewerbssystem wieder: sei es der Wettbewerb um Investitionen, um LeistungsträgerInnen, TouristInnen, Kreative, Megaevents. Konkurrenz hat sich als einer der Pfeiler der Gesellschaft etabliert und verdrängt andere Formen der gesellschaftlichen Organisation sowohl aus immer mehr Handlungsfeldern des Alltags als auch aus dem Bewusstsein der Menschen. Als jüngste Entwicklung setzt der Neoliberalismus an, die letzten Winkel des Privaten in Wert zu setzen – aus Gastfreundschaft wird Airbnb, aus Mitfahrgelegenheiten Uber, aus Nachbarschaftshilfe Leihdirwas.
Gegen diesen Prozess organisiert sich in vielen Städten Widerstand, der auch auf kooperativen Formen der Zusammenarbeit fußt. Er manifestiert sich in der Commons-Bewegung ebenso wie in politischen Bottom-up-Netzwerken und BürgerInnen-Initiativen. Bei den spanischen Regionalwahlen 2015 feierten basisdemokratisch organisierte Wahl-Plattformen erdrutschartige Erfolge, die einen Machtwechsel in vier der fünf größten Städte Spaniens, darunter Barcelona und Madrid, einbrachten. Kooperation abseits von Konkurrenz und Verwertung hat es in Städten immer gegeben; das Bewusstsein, aktiv neue Formen als Gegenmodell zu testen, hat sich jedoch erst in den letzten Jahren verstärkt. Die Netzkultur mit ihren flachen Hierarchien und neuen Formen der Arbeitsorganisation, ihrer Forderung nach Transparenz und offenem Zugang zu Wissen bietet nicht nur technische Möglichkeiten, sondern inspiriert auch zu neuen Formen der Organisation. Michael Hardt verweist in diesem Zusammenhang auf Lenin, der davon ausging, dass die Form der Arbeitsorganisation in hohem Maße auch die Form der Organisation politischen Denken und Handelns bestimmt. Wenn also, so Hardt, »die vorherrschende Form der Arbeitsorganisation heute in horizontalen und dezentralisierten Kooperations-Netzwerken besteht, könnte man sich eine politische Form vorstellen, die ebenso dezentralisiert und horizontal ist. […] Menschen sind bei ihrer Arbeit flexibel, autonom und kooperativ, und das erlaubt ihnen, in der Politik horizontale Netzwerke zu knüpfen und zusammen zu arbeiten.« (Vogel 2010) Der Postfordismus mit seinen flexiblen und dezentralen Organisationsformen der Arbeit eröffnet als unbeabsichtigtes Nebenprodukt somit möglicherweise Fenster für eine andere Zukunft der Stadtgesellschaft.

Die Stadt als Œuvre

Dem Stadtsoziologen Henri Lefebvre galten Städte immer als Œuvre. Damit wollte er sie nachdrücklich von einem warenförmigen Produkt abgrenzen und betonen, dass Städte ein kooperatives Werk aller StadtbewohnerInnen sind. Diese Entwicklung sah er als gefährdet und prognostizierte schon frühzeitig Entwicklungen wie Privatisierung, Verdrängung oder globale Urbanisierung, die heute offensichtlich sind. Stadt ist das natürliche Habitat der Kooperation und ein logischer Ort für das Entstehen von gesellschaftlichen Laborsituationen und sozialen Innovationen. Der urbane Raum bietet beste Voraussetzungen für die Entwicklung neuer Werkzeuge und Handlungsmodelle, um das Versprechen auf individuelle Lebensgestaltung als positive Errungenschaft der Moderne mit der sozialen Verfasstheit des Menschen stärker in Einklang zu bringen. Dabei bilden Kooperation und Konkurrenz nicht notwendigerweise ein Gegensatzpaar, wie Richard Sennett (2014) betont: Die Stadt als Raum in ständiger Bewegung, als Ort von Konflikt und Aushandlung benötigt wohl beides. Kooperation definiert Sennett als Handwerk, das den Dialog als Möglichkeit mehrere Meinungen anzuerkennen und eher dem Zuhören Raum zu geben als dem geschliffenen Argument ebenso umfasst wie das Denken und Kommunizieren in Möglichkeitsräumen statt in absoluten Wahrheiten. Empathie sieht er als jene Fähigkeit, Neugier für andere Lebenswelten zu entwickeln, die es gegenseitig zu erkunden gilt.
In der urbanen Praxis eröffnen kooperative Ansätze jedoch nicht nur eine Reihe von Chancen, sondern auch eine Menge Fragen: Einerseits hat sich die Suche nach neuen Formen des Miteinanders deutlich intensiviert, andererseits dreht sich das Wettbewerbskarussell immer schneller und zwingt nicht nur Individuen, sondern auch Unternehmen, Institutionen und Städte in eine ständige Konkurrenzsituation. Gleichzeitig hat die Finanzkrise weltweit Bewegungen Aufschwung verliehen, die nach alternativen Wegen suchen, um den sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Egal ob Recht auf Stadt-Netzwerke, De-Growth/Post-Wachstums-Bewegung, Urban Commons, Gemeinwohl-Ökonomie, freie Software- oder Sharing-Initiativen – den Ausgangspunkt dieser Suche bildet immer Kooperation im Sinne des Zusammenwirkens einzelner zum Wohle vieler. Dass es dabei bessere und schlechtere, wichtige und weniger wichtige und selbstverständlich auch zu kritisierende Modelle und Ansätze gibt, versteht sich von selbst. Erfahrungen mit staatlichen Programmen wie Big Society (GB) oder Participation Society (NL) zeigen beispielsweise, wie viel neoliberale Kraft im Ruf der Kommunen nach Zusammenarbeit mit ihren BürgerInnen steckt.[1] Als dominantes Narrativ verdeckt der Ruf nach Kooperation wichtige Diskussionen über die Verteilung von Macht, Mitteln und den Zustand unserer demokratischen Systeme. Bürgerbeteiligungen und partizipative Planungsansätze bilden allzu oft nur ein Feigenblatt in längst beschlossenen Stadtentwicklungsprozessen. Auch in Sachen Zusammenarbeit gilt es also genau zu fragen, wer mit wem, wie und warum auf welcher Basis kooperieren soll.
Die im Titel des Schwerpunkts angesprochenen Perspektive sehen wir in Konzepten wie Urban Citizenship, Urban Commons, Autogestion bzw. Selbstverwaltung. Es geht in diesem Heft also um Fragen einer umfassenden Gleichberechtigung jedes einzelnen Individuums der Stadtbevölkerung, der Produktion und Verteilung von Gütern, der kollektiven Stadtproduktion und der Möglichkeit der Mitgestaltung und Teilhabe, der Kommunikation und der Gesellschaftsorganisation. Also um nicht mehr und nicht weniger als die kooperative Stadt.


  1. 2013 hat der niederländische König Willem-Alexander in einer Fernsehansprache das Ende des Wohlfahrtsstaates angekündigt und verlautbart, dass dieser durch eine »Participatiemaatschappij«, eine Gesellschaft der Partizipation ersetzt werden wird: »These days people want to make their own choices, arrange their own lives and look after each other. These developments make it appropriate to organise care and social provision close to people and in collaboration with them.« (The Amsterdam Herald 2013). Vorbild dafür ist David Camerons Vision einer Big Society, die ebenfalls das Ziel hat, staatliche Leistungen zu kürzen, um BürgerInnen und Kommunen damit zu belasten. ↩︎


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Literaturliste

Literatur
Antón, Susan C.; Potts, Richard & Aiello, Leslie C. (2014): Evolution of early Homo: An integrated biological perspective. In: Science, Vol. 345 no. 6192. DOI: 10.1126/science.1236828.
Fisher, Mark (2012): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Symptome unserer kulturellen Malaise. Hamburg: VSA.
Graeber, David (2014): Schulden. Die ersten 5000 Jahre. München: Wilhelm Goldmann.
Meretz, Stefan (2012): Konkurrenz und Kooperation. In: Streifzüge, Heft 56. [20.09.2015]
Meretz, Stefan (2014): Grundrisse einer freien Gesellschaft. In: Konicz, Tomasz & Rötzer, Florian (Hg.): Aufbruch ins Ungewisse. Auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise. Hamburg: Heise.
Senett, Richard (2014): Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München: dtv.
Staun, Harald (2013): Der Terror des Teilens In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.12.2013. [20.09.2015].
The Amsterdam Herald (2013): King Willem-Alexander: ›participation society‹ must replace welfare state. In: The Amsterdam Herald, 17.9.2013.[20.09.2015].
Vogel, Steffen (2010): Michael Hardt im Interview. In: Freitag, 6.4.2010. [20.09.2015].