Wiedervereinte Nachkriegsmoderne
»Radikal Modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre«, Ausstellung in der Berlinischen Galerie – Museum für Moderne Kunst, BerlinWenn man durch die Ausstellung Radikal Modern – Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre geht, gibt es zwei für ihren Kontext relevante Aspekte. Der Prolog thematisiert zum einen die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs sowie den Bau der Berliner Mauer 1961 als wichtigste Rahmenbedingungen für die architektonischen und stadträumlichen Konzepte der 1960er Jahre, auf die in den sechs Kapiteln der Ausstellung näher eingegangen wird. Der schlechte Zustand der alten Bausubstanz als Auslöser für das Aufkeimen des radikalen Wunsches nach einer Neuausrichtung der Stadt wird hier ebenso deutlich wie die stadträumliche und ideologische Bedeutsamkeit des wichtigsten Bauwerks der Zeit – der Berliner Mauer. Die Entwürfe und Bauten müssen im Kontext einer geteilten und zerstörten Stadt gesehen werden, die ihre Vergangenheit rigoros überwinden und nach vorne schauen wollte.
Zum anderen – und dieser Aspekt wird in der Ausstellung nicht direkt thematisiert – gibt es die gegenwärtige Situation einer wiedervereinigten Stadt, in der die Rekonstruktion nach wilhelminischem Ideal vorherrscht – das Stadtschloss ist gerade im Bau – und die Zerstörung oder Umgestaltung vieler Bauten der Nachkriegsmoderne anstrebt. Aktuell werden beispielsweise die Nachahmung mittelalterlicher Strukturen an einem der zentralen Plätze der Ostmoderne – dem Rathausplatz am Fernsehturm – sowie die Verdichtung des Kulturforums von Hans Scharoun im ehemaligen Westberlin unter dem Paradigma der traditionellen, europäischen Stadt diskutiert. Viele Bauten und Stadträume aus der Nachkriegsmoderne sind aktuell gefährdet, dem Bauerbe der Nachkriegszeit haftet ein negatives Image an.
Die Kuratorin Ursula Müller positioniert sich ganz klar zur aktuellen Situation in Berlin: Die Ausstellung sei ein Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung des Bauerbes der 1960er Jahre. Damalige Fragestellungen, wie z. B. die Wohnungsfrage oder die Suche nach einer neuen Stadtidentität, sind heute wieder aktuell – eine präzise Auseinandersetzung mit den Studien und Experimenten des Jahrzehnts könnte Lösungen für die Gegenwart anregen. Ebenso wie beide Systeme nach dem Mauerbau nach einer neuen Identität suchten, steht das wiedervereinigte Berlin vor der gleichen Herausforderung. Doch statt einer neuen, zeitgemäßen Herangehensweise, die den jetzigen gesellschaftlichen Anforderungen und Verhältnissen gerecht wird, gibt es eine Reorientierung hin zur Vergangenheit und touristischen Attraktion. Auch die Wohnungsfrage ist wieder da: Berlin wächst, Wohnraum ist knapp, die Mieten steigen, und die bisherige Strategie, sich auf private InvestorInnen zu verlassen, verschärft die Situation, statt sie zu verbessern. Die Ansätze und Debatten aus den 1960er Jahren waren, wie die Ausstellung zeigt, von einer Vielfalt ästhetischer Antworten auf die damaligen Verhältnisse geprägt, die von einer kritischen Debattenkultur und umfassenden Studien und Experimenten begleitet wurde.
Die unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte stellen anhand von noch bestehenden, teils vom Abriss oder Umbau bedrohten sowie zerstörten Bauten die Baukultur der 1960er Jahre in Ost- und Westberlin vor. Zugleich geben die Auseinandersetzung mit ungebauten Visionen und Stadtutopien und der Umgang der ArchitektInnen mit der historischen Bausubstanz einen Eindruck von den komplexen Debatten und dem Ideenreichtum der Zeit. Zu sehen ist auch eine differenzierte Aufbereitung der Entstehung wichtiger gebauter Beispiele wie z. B. der Neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von Egon Eiermann und des Staatsratsgebäudes von Roland Korn, Hans-Erich Bogatzky und Klaus Pätzmann – in beiden Gebäuden wurden die Ruinen in die Figur der neuen Architektur eingearbeitet – oder des Europa-Centers von Helmut Hentrich und Hubert Petschnigg als Westberliner Antwort auf das Rockefeller Center und des Hauses des Lehrers von Hermann Henselmann als Ostberliner Hommage an Brasilia.
Erstaunliche Parallelen in der Formensprache der Ost- und Westmoderne wurden aufgespürt, und es wird deutlich, dass über die physische Grenze der Mauer hinweg nicht nur Konkurrenz zwischen Ost und West herrschte, sondern auch Verflechtungen und Korrespondenzen aufrechterhalten wurden, zumal die Realisation des Kollektivplanes, welcher zunächst auf die Gesamtstadt ausgerichtet war, in beiden Stadthälften vor dem Hintergrund der Teilung weitergedacht werden musste. Hier bricht die Ausstellung mit den gewohnten Erzählstrategien des Kalten Krieges, die die Konkurrenz und unterschiedlichen Bezugssysteme der zwei Stadthälften in den Vordergrund stellen, und lenkt den Blick auf die Gemeinsamkeiten: Das Bild der Moderne, das Bild der Zukunft waren richtungsweisend. Beide Seiten erlebten einen Bauboom, begleitet von gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen und dem Enthusiasmus für eine neue Zukunft – beide Systeme wollten die jüngste Vergangenheit überwinden und fanden ihr städtebauliches Leitbild in der autogerechten Stadt. Dabei entstanden aus dem Geist des rationalisierten Bauens und dem Einsatz neuer Bautechniken und Materialien radikal neue Räume.
Man war sich zugleich auf beiden Seiten bewusst, dass die technisch-ökonomischen Vorgaben und die Orientierung an der Bauwirtschaft auch Nachteile mit sich brachten, und setzte sich z. B. mit der Monotoniegefahr der Typisierung im Wohnungsbau auseinander. Interessant ist in diesem Zusammenhang die detaillierte Präsentation der Punkthochhaus-Studien von Manfred Zumpe (Ost) und Klaus Müller-Rehm (West) – beide eindrucksvolle Wiederentdeckungen –, die sich ausgiebig mit dieser Thematik befassten. Zumpes gut aufbereitete Korrespondenz mit Walter Gropius, der damals an den Planungen für die Gropiusstadt arbeitete, offenbart zugleich exemplarisch die Verflechtungen zwischen Ost und West.
Diese sowie andere Beispiele lassen den sachlichen Blick der KuratorInnen erkennen, zumal der Nostalgiegefahr mit einer detaillierten Dokumentation der inhärenten Kritik der Zweiten Moderne entgegengesteuert wird. Die Zweite Moderne war demnach nicht nur radikal, Kritik und selbstkritische Auseinandersetzungen waren oft prägend für die Entwicklung der Bauten und Stadträume. Es war beispielsweise nicht vorgesehen, dass die Ruinen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche erhalten wurden. Der Protest der Kirchengemeinde und Bevölkerung überzeugte Egon Eiermann, den neuen Entwurf mit der Ruine zusammenzuführen. Auch viele der unrealisierten Entwürfe sind als zeitnahe Kritik am bauwirtschaftlichen Mainstream zu verstehen: Georg Kohlmaier und Barta von Sartorys Entwurf für rollende Gehwege (West) sollte den Menschen vor der Dominanz der motorisierten Stadt schützen; Engelbert Kremsers Erdarchitektur als Entwurf für das Europa-Center, das an heutige parametrische Renderings denken lässt, beruhte auf einer komplett neuen Bautechnik und unterminierte die mächtige Bauwirtschaft. In Ostberlin hingegen wurden Josef Kaisers Großhügelhäuser, die mit Dieter Urbachs eindrucksvollen Collagen den Zukunftsoptimismus der Zeit verbildlichen, »unter Verweis auf aktuelle soziologische Studien« mit dem Argument abgelehnt, »dass angesichts der zunehmenden Differenzierung der Lebensbedürfnisse ein solch gigantisches Wohnhausprojekt widersinnig sei«.
Die Ausstellung wirkt wie ein Befreiungsschlag aus den emotional und ideologisch geführten Debatten, in denen die Ostmoderne pauschal als totalitäre, unmenschliche Utopie und die Westmoderne als unwirtliche, unästhetische Architektur geschmäht und die Rückkehr zum Mythos einer gewachsenen europäischen Stadt für die Berliner idealisiert wird. Durch das Zusammendenken beider Stadthälften in der ersten Dekade nach der endgültigen räumlichen Teilung wird deutlich, dass die Nachkriegsmoderne als Antwort auf die gesellschaftlichen, räumlichen und kulturellen Umstände und Bedingungen der 1960er gesehen werden muss. Die Parallelen und Analogien deuten auf eine Unbedingtheit dieser Formensprache zur Überwindung des Zweiten Weltkriegs und einer Distanzierung von der mythologisierenden, historisierenden Ästhetik des Nationalsozialismus. In diesem Zusammenhang würde man sich heute dringend einen Paradigmenwechsel und eine neue Debattenkultur für das wiedervereinigte Berlin wünschen. Die Ausstellung bietet hierfür eine sehr gute Grundlage, und man kann nur hoffen, dass sie mit der Betrachtung der 1970er, 1980er und 1990er Jahre bis zur heutigen Zeit eine Fortsetzung erfährt. Vielleicht würde dadurch nachvollziehbar, wie es zur gegenwärtigen radikalen Unmoderne kommen konnte.
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Ausstellung
Radikal Modern
Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre
29. 5. – 26. 10. 2015
Berlinische Galerie – Museum für Moderne Kunst, Berlin
Radikal Modern Symposium
Verflechtungen. Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre
26. 6. 2015, 10 – 17 Uhr, Auditorium Berlinische Galerie
Niloufar Tajeri ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Bauplanung am Institut für Entwerfen, Kunst und Theorie in Karlsruhe.