Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Mit der dérive-Schwerpunktausgabe zu Migration (dérive 37) haben wir versucht, die Argumentation zu bekräftigen, dass Migration ein normaler Bestandteil städtischen Lebens ist und (Groß-)städte ohne Migration schlicht nicht vorstellbar sind. Der Kulturhistoriker Moritz Csáky hat nun ein Buch mit dem Titel Das Gedächtnis der Städte vorgelegt, das am Beispiel Wiens und anderer zentraleuropäischer Städte die »kulturellen Verflechtungen« vor allem im 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sehr ausführlich und detailliert analysiert und darstellt. Überzeugend gelingt es ihm zu zeigen, wie falsch es historisch ist, von einer sprachlich und kulturell homogenen städtischen Bevölkerung auszugehen. »Normal« ist und war – und das gilt in besonderem Maße für Zentraleuropa – eine Bevölkerung, die unterschiedliche Sprachen gesprochen hat, die selbst zugewandert ist oder deren Vorfahren irgendwann zugewandert sind. Derjenige Teil der Bevölkerung, der auf Vorfahren verweisen kann, die alle über mehrere Generationen in der selben Stadt geboren sind, ist die Ausnahme und nicht die Regel. Im zentraleuropäischen Raum sieht Csáky in dieser »Pluralität, Heterogenität beziehungsweise Differenziertheit« sogar die »Einheit der Region« begründet.
Csákys Ziel ist es, Spuren wieder sichtbar zu machen und »den Blick auf kulturelle Phänomene der zentraleuropäischen Region« zu richten, und zwar »aus der Perspektive der Peripherie, die sich auch im Zentrum, im metropolitanen urbanen Milieu vorfindet, als auch dem Erfahrungshorizont der eigenen Gegenwart, aus der Perspektive translokaler und transnationaler Mobilitäten, Migrationen und Kommunikationsweisen, mit denen wir gelernt haben, tagtäglich umzugehen«. Kultur versteht Csáky – und das ist eine seiner zentralen Thesen – als Kommunikationsraum und sieht sie folglich »als als ein Ensemble von Elementen, das heißt von Zeichen, Symbolen oder Codes [...], mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext, nach einem gewissen Regelwerk, verbal und nonverbal kommunizieren«.
Es ist bekannt, dass es in Zentraleuropa – Csáky erläutert ausführlich, warum er den politisch belasteten Begriff Mitteleuropa nicht verwendet – und im Habsburger Reich kaum möglich war, Grenzen zwischen Sprachräumen zu ziehen. »Die jeweiligen Sprachen waren jedoch nicht Merkmale unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten, sie signalisierten vielmehr Räume unterschiedlicher soziokultureller Schichtungen, die oft nicht streng voneinander getrennt werden konnten, sondern ineinander übergingen und sich verschränkten.« Mehrsprachigkeit war weit verbreitet, die verwendete Sprache änderte sich oft von Dorf zu Dorf, nicht selten wurden innerhalb einer Familie mehrere Sprachen gesprochen. Csáky erzählt in diesem Zusammenhang die interessante Geschichte, dass Familien in Böhmen ihre Kinder oft für ein Jahr zu einer Familie ins Nachbardorf schickten und gleichzeitig selber Kinder für den selben Zeitraum aufgenommen haben, damit diese die jeweils andere Sprache lernten. Dass in den Städten und speziell in Wien alle Sprachen der benachbarten Regionen gesprochen wurden, liegt auf der Hand, deckt aber noch nicht das ganze Spektrum ab, denn es gab neben dieser regionalen auch eine transregionale Heterogenität. Für Wien ist hier vor allem auf den spanischen, französischen, italienischen, deutschen und türkischen Einfluss hinzuweisen. Csáky zitiert immer wieder Reiseberichte und Tagebücher von Wien-BesucherInnen, die von dieser Vielfalt an gesprochenen Sprachen überrascht waren. Die sprachliche Heterogenität war in Wien in dieser Zeit stärker ausgeprägt als in den anderen europäischen Metropolen (Wien war damals die viertgrößte Stadt Europas).
Diese Einflüsse existierten natürlich nicht alle gleichzeitig und wirkten sich auf bestimmte Bevölkerungsschichten nachdrücklicher aus als auf andere; trotzdem sind die »grenzüberschreitende[n], dichte[n] exogene[n] Vernetzungen, die kontinuierliche Einflüsse und Rückflüsse beinhalten [... ,] für das regionale Selbstverständnis konstitutiv geworden« und haben in »dynamischer und performativer Weise« die Region ständig und nachhaltig geprägt. Doch wie heute wurden auch damals die tatsächlichen Verhältnisse ignoriert bzw. gab es einflussreiche Gruppen, die »nationalen Indifferentismus«, d. h. das Bekenntnis zu mehreren oder gar keiner Nation, brandmarkten.
Einen großen Teil seines Buches widmet Csáky Wien – »Ein urbanes Milieu der Moderne«. Die Bevölkerungszahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Zwischen 1880 und 1910 war die Mehrheit der BewohnerInnen Wiens nicht in Wien geboren. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es aufgrund der hohen Zuwanderungszahlen sogar die Überlegung, Wien in Nationalitätenbezirke aufzuteilen. Die größte ZuwanderInnengruppe waren die Böhmen und Mährer – rund eine halbe Million lebten um die Jahrhundertwende in Wien; es folgten UngarInnen und SlowakInnen. Wien galt damals als die größte tschechische Stadt, und so mancher Deutschnationale befürchtete, die Stadt könne »kippen«, d. h. tschechisch werden. Der Druck zur sprachlichen und gesellschaftlichen Assimilation war dementsprechend groß und ging einerseits von sozialen und ökonomischen Aufstiegsmöglichkeiten und andererseits von politischen Verordnungen aus. TschechInnen, die BürgerInnen von Wien werden wollten, was nach zehnjährigem Aufenthalt und ebenso langer Steuerleistung möglich war, mussten per – von Bürgermeister Karl Lueger persönlich geändertem – Bürgereid schwören, »den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrecht« zu erhalten und keinem tschechischen Verein anzugehören oder einen zu gründen, was laut Staatsgrundgesetz jedoch völlig legal war. Nach diesem Eid galten die ehemaligen Tschech-Innen offiziell als Deutsche und wurden in Statistiken als solche gezählt.
In seiner Darstellung des Lebens der nach Wien zugewanderten Bevölkerung konzentriert sich Csáky vor allem auf Intellektuelle und Künstler sowie deren Treffpunkte in der Stadt. Ein spezielles Interesse hat er an der Literaturproduktion und hier besonders an dem Umstand, dass Literatur, die in Wien geschrieben wurde, später in den Herkunftsländern der jeweiligen Autoren und Autorinnen nicht selten als klassische Nationalliteratur rezipiert und kanonisiert wurde. »Die hier vorhandenen und real nachweisbaren sprachlich unterschiedlichen Literaturen wurden vielmehr hier, in Wien, aus ihrem ursprünglichen städtischen lebensweltlichen Kontext herausgerissen, eindeutig nationalisiert und reterritoralisiert, das heißt in einen national codierten territorialen Kontext integriert.«
Eine aktuelle Bestätigung der Untersuchungen von Csáky bietet ein Portrait der Wiener Lerchenfelder Straße, das als Buch mit dem Titel Aufbruch in die Nähe. Wien Lerchenfelder Straße erschienen ist. Es enthält einerseits »Mikrogeschichten zwischen Lokalidentitäten und Globalisierung« und andererseits Essays zu »sozialen Kunstpraxen, kritischer Stadtplanung und Straßenprojekten in Amsterdam, Bremen, Hamburg, Köln, Wien und Zagreb«. Das Buch bietet aber nicht nur inhaltlich mehrere Ebenen, sondern auch gestalterisch. Eine Fotostrecke, die sich durch das ganze Buch zieht, zeigt die an zwei Tagen abfotografierten Häuserfronten beider Seiten der den 7. und den 8. Wiener Gemeindebezirk trennenden Straße. Besonders interessant am Buch sind die Gespräche mit Menschen, die in der Lerchenfelder Straße arbeiten. Sie zeigen genau jenes Gewebe, jene Pluralität und Heterogenität, von der Csáky in seinem Buch spricht, und somit auch eine Kontinuität in der Produktion von Stadt, die auf Zuwanderung beruht.


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