Axonometrie und Alltag
»Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des neuen Wohnens«, Ausstellung im Wien MuseumAusstellung
Werkbundsiedlung Wien 1932
Ein Manifest des Neuen Wohnens
Wien Museum
6. September 2012 bis 13. Januar 2013
100 Jahre Österreichischer Werkbund, und keiner thematisiert es? Zumindest das ebenfalls heuer anstehende 80jährige Jubiläum der Wiener Werkbundsiedlung hat das Wien Museum zum Anlass genommen, die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Siedlung gründlich aufzuarbeiten. Dabei waren Kurator Andreas Nierhaus und Kuratorin Eva-Maria Orosz klug genug, sich von Anfang an der Mitarbeit u. a. Otto Kapfingers zu versichern, der gemeinsam mit Adolf Krischanitz die Grundlagenforschung für die letzte Sanierung von 1985 betrieben hat.
Die Ausstellung, die nicht im Hauptausstellungsraum des Wien Museums, sondern im ersten Stock zu sehen ist, könnte angesichts der Fülle an dokumentarischem Material etwas mehr Platz gut gebrauchen. Nach einer allgemeinen Einführung zum Kontext der nach dreijähriger Planung als vorletzte ihrer Art (einen Monat später folgte die völlig anders konzipierte Baba-Siedlung in Prag) eröffneten Werkbundsiedlung, dem Gemeindebau, der Wiener Siedlerbewegung und dem Kreis um Otto Neurath ist rund um ein großes Modell der gesamten Anlage auf Wandtafeln jedes einzelne Haus dokumentiert. Es lohnt dabei, sich – ausgestattet mit ausreichendem Zeitbudget – auch in den Details auf die Objekte einzulassen. Da wurde zum Teil Erstaunliches, auch für Fachleute Neues zu Tage gefördert – neben ausführlichen Unterlagen zu den langwierigen Vorplanungen für das ursprünglich vorgesehene Gelände bei der Spinnerin am Kreuz etwa Josef Franks (auf Deutsch geführter) Briefwechsel mit Gerrit Rietveld, in der Ausstellung faksimiliert und komfortabel am Tisch sitzend nachzulesen, oder André Lurçats aus Paris entlehnte schöne Axonometrien seiner vier Werkbund-Häuser mitsamt nicht ausgeführtem formal-modernistischem Gartenentwurf.
Dank der Möbel-Spezialistin Eva-Maria Orosz ist ein umfangreicher Teil der Ausstellung der Einrichtung der Musterhäuser gewidmet. Dabei wurde versucht, auch der Geschichte der zahlreichen beteiligten Tischlereien, Raumausstatter und Haushaltsgeräte-Lieferanten nachzugehen. Was mit dazu beiträgt, die Siedlung nicht als ein vom Himmel gefallenes Wohnmanifest, sondern auch als ein Spiegelbild der Produktpalette progressiver Alltagskultur der frühen 1930er Jahre zu erkennen. Beharrlich wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich um Ausstellungswohnungen handelte und in diesen Einrichtungen nicht wirklich gelebt wurde. Hatte das denn jemand angenommen? In der Kombination mit einigen Originalmöbeln aus den Muster-Einrichtungen der Häuser (auf einigen Sesselmodellen aus derselben Zeit darf man sogar sitzen!) ergibt sich, gerade durch ihren demonstrativen Charakter, ein Panorama der Zeit, in dem sich selbstredend auch das ganze Ausmaß an historischen Entwicklungen spiegelt.
Dabei kann als ein bezeichnendes Fallbeispiel die Geschichte eines Hauses von Jacques Groag, einem Mitarbeiter von Adolf Loos, ausführlich dokumentiert werden. Nachdem ein geplanter Hausbau durch Loos gescheitert war, kaufte die mit Loos über seine Frau Claire verwandte Familie Schanzer das Groag-Haus und eignete es sich und ihrem Leben an. Die Odyssee der jüdischen Familie führte nach dem Selbstmord der verzweifelten Eva Schanzer 1938 über eine zu deren Rettung in die Wege geleitete Adoption der Kinder nach Australien und weiter in die USA, wo sich Vater, Sohn und Tochter schließlich wieder trafen. Historische Fotos vom Leben im Haus und ein Video-Interview mit Charles Paterson, dem einstigen Karli Schanzer, der, nach eigener Aussage beeinflusst durch sein Elternhaus, in den USA Architektur studierte und Mitarbeiter Frank Lloyd Wrights wurde, schließen den Kreis zur Gegenwart.
Ein weiterer wichtiger Teil des Nachlebens der Siedlung ist auch die Dokumentation von Kommentaren der Bewohnerschaft, die für den ORF im Zuge der Sanierung der 1980er Jahre dokumentiert wurden. Die bodenständige Sichtweise der kittelbeschürzten Bewohnerinnen in den – bis heute großteils über die GESIBA vermieteten – Häusern mit ihren klobigen Wohnzimmer-Einrichtungen mag aus der Distanz von bald drei Jahrzehnten zum Lachen reizen. Aber Menschen lassen sich eben nicht per architektonischer Absichtserklärung zu idealen Lichtgestalten umfunktionieren. Lebensalltag ist banal und jede Beschwerde über schlecht und unkoordiniert ausgeführte Bauarbeiten legitim. Den chronologischen Abschluss der Ausstellung bildet die jüngste denkmalpflegerische Bestandsaufnahme und Restaurierung durch das Wiener Architekturbüro p.good. Eines ist klar: Die Siedlung lebt, und ihre Geschichte geht weiter.
Ernst Logar