Eine neue internationale munizipalistische Bewegung ist im Entstehen
Von kleinen Erfolgen zu einer globalen AlternativeIn einer Welt, die zwischen neoliberaler Krise und Autoritarismus feststeckt, beweist eine neubelebte munizipalistische Bewegung, dass sie ein starkes Werkzeug ist, um emanzipatorische Alternativen von Grund auf zu gestalten. Von 9.-11. Juni 2017 haben sich BürgermeisterInnen, StadträtInnen und AktivistInnen aus über 40 Länder zur internationalen, munizipalistischen Fearless-Cities-Konferenz in Barcelona getroffen. Die Veranstaltung brachte erstmals ein Netzwerk munizipalistischer Plattformen zusammen, das sich im Laufe der letzten Jahre, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen, rund um die Welt ausgebreitet hat.
Die munizipalistische Bewegung besteht aus einem Netzwerk von Organisationen, die innerhalb und außerhalb des parlamentarischen Systems auf lokaler Ebene arbeiten. Die Bewegung zeichnet sich sowohl durch die Art, wie sie Politik macht, als auch durch ihre Ziele aus und es ist dieses Beharren auf der Notwendigkeit Dinge anders zu machen, die dem Munizipalismus seine besondere Stärke im gegenwärtigen Kontext gibt. Munizipalismus agiert auf lokaler Ebene. In einem Zeitalter xenophober Diskurse, die Menschen aus nationalen oder ethnischen Kriterien ausschließen, erarbeitet der Munizipalismus alternative Formen kollektiver Identitäten und Staatsbürgerschaften, die auf Wohnsitz und Partizipation basieren. Munizipalismus ist pragmatisch und zielorientiert: In einem neoliberalen System, das behauptet »there is no alternative«, beweist der Munizipalismus, dass die Dinge durch kleine, jedoch ganz konkrete Siege, wie der Wiederaufnahme städtischer Dienstleistungen oder der Bereitstellung lokaler Ausweise für undokumentierte ImmigrantInnen, sehr wohl anders gemacht werden können. Der Munizipalismus erlaubt uns, individuelle und kollektive Autonomie zurückzugewinnen; als Reaktion auf die Forderung von BürgerInnen nach wirklicher Demokratie, die über eine alle paar Jahre stattfindende Abstimmung hinausgeht, eröffnet der Munizipalismus neue Möglichkeiten der Partizipation.
Die globale Landkarte des Munizipalismus
Die munizipalistische Bewegung konnte sich bereits in einigen Gebieten der Welt festsetzen. Die aktuell eindrücklichsten Demonstrationen des Munizipalismus sind möglicherweise bei kurdischen Bewegungen des Nahen Ostens zu finden. Trotz der Allgegenwart von Krieg und Unterdrückung bauen die KurdInnen feministische, auf Versammlungen basierende Modelle einer staatenlosen Demokratie, vor allem in der selbstverwalteten Region Rojava in Nord-Syrien, auf (Saadi 2014).
Munizipalismus floriert auch in Südeuropa. In Spanien regieren BürgerInnen-Plattformen die meisten großen Städte, darunter Barcelona und Madrid (Delclós 2015). Diese Plattformen treten in die Fußstapfen der munizipalistischen Popular Unity Candidacies (CUP), die bei den Kommunalwahlen 2007 und 2011 in Katalonien bedeutende Erfolge erlangten.
Spaniens Städte des Wandels nehmen Sparmaßnahmen zurück, führen zentrale städtische Dienstleistungen wieder ein und integrieren eine ausdrücklich feministischen Perspektive in den öffentlichen politischen Diskurs. Als Netzwerk spielen diese Kommunen eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik über Themen wie Migration und Wohnen. In Italien war Cambiamo Messina dal Basso ein frühes Beispiel des so genannten Neo-Munizipalismus, der 2013 in der sizilianischen Stadt das Rathaus übernahm (Alagna & Sakalis 2015). In Neapel hat eine munizipalistische Koalition innovative Wege zur Demokratisierung der städtischen Gemeinden entwickelt und sich unter der Leitung von Bürgermeister Luigi Demagistris gegen Stadtentwicklungspläne der Zentralregierung gestellt (Bollier 2012). BürgerInnen-Plattformen haben Stadtratssitze in Bologna und Pisa, in anderen Städten wie Padua oder Verona kandidierten Plattformen zuletzt bei den Kommunalwahlen am 11. Juni.
Andernorts wird der Munizipalismus als künftige Strategie für eine Reaktion auf das Scheitern und die Grenzen nationaler Politik erkundet. In Frankreich beispielsweise überlegen AktivistInnen aus der Nuit-Debout-Bewegung, die 2016 Plätze besetzt haben, den munizipalistischen Weg, der von einigen ihrer Indignados-KollegInnen in Spanien beschritten worden ist, bei den Kommunalwahlen 2020 ebenfalls zu gehen. Die linksgrüne BürgerInnen-Allianz, RCGE, die in Grenoble mit dem Bürgermeister Eric Piolle regiert, und Autrement pour Saillans in der kleinen Stadt Saillans könnten als potenzielle Inspirationsquellen in der näheren Umgebung dienen. Im Nachlauf der Präsidentschaftswahl, die die Wahl zwischen einem neoliberalen Kandidaten und einer rechtsextremen Kandidatin zur Auswahl stellte, ist die Zeit in Frankreich reif, um zu beweisen, dass es Alternativen auf lokaler Ebene gibt.
Ganz ähnlich hat in den USA der Sieg von Trump unter den Anhängern von Bernie Sanders ein Nachdenken über das Potenzial von Städten als Orte für Widerstand und Veränderungen hervorgerufen. Sanders selbst hat gesagt, dass es der nächste Schritt für seine Bewegung ist, sich lokal zu organisieren und mit BewerberInnen für lokale Ämter zu kandidieren. Die Working Families Party, die Sanders im Jahr 2016 unterstützte, arbeitet aktiv daran, die Energie seiner Bewegung in lokalen und staatlichen Vorwahlen zu nutzen. In den USA wie in Frankreich gibt es einzelne Fälle munizipalistischer Plattformen – Richmond for All (Richman 2017) in Kalifornien und People’s Assembly in Jackson (Nichols 2016), Mississippi, die ein Modell für eine breitere Bewegung sein könnten.
In Hongkong ist der Stadtrat ein wichtiger Ort der Auseinandersetzung zwischen der Demokratiebewegung und der chinesischen Regierung geworden: Die gewählten Stadträte der beiden Parteien Demosisto– und Youngspiration sind mit Repression und staatlicher Verfolgung für ihre Rolle in den Pro-Demokratie-Protesten innerhalb und außerhalb der Rathauses konfrontiert (Phillips & Cheung 2016).
In Polen, einem weiteren Land, das von der autoritären Rechten regiert wird, gärt seit einigen Jahren eine munizipalistische Bewegung. 2011 wurde der Kongres Ruchów Miejskich (Kongress städtischer Bewegungen), eine Zusammenführung von verschiedenen auf lokaler Ebene aktiven Organisationen, gegründet (Stokfiszewski 2014). Eine Reihe von BürgerInnenplattformen des Kongresses kandidierten bei den Kommunalwahlen im Jahr 2014. Sie eroberten Sitze in sechs Stadträten und in Bezirksräten in Warschau sowie den Bürgermeistersessel in Gorzów Wielkopolski. Bei den Kommunalwahlen 2018 sollte es dieser Bewegung gelingen weitere Fortschritte in einer Allianz mit lokalen Ablegern der überregionalen Partei Razem zu machen.
Auch in Lateinamerika sorgen die kommunalen Bewegungen für einen Funken der Hoffnung vor dem Hintergrund nationaler Stagnation und der Krise. Im Jahr 2016 gewann Áurea Carolina de Freitas von der BürgerInnenplattform Cidade que Queremos mehr Stimmen als alle anderen KandidatInnen für den Stadtrat in Belo Horizonte, Brasilien (Black Women of Brazil 2016). Jorge Sharpe, ein ehemaliger Studentenaktivist, der von einer Bürgerplattform unterstützt wurde, gewann die Bürgermeisterwahlen in Chiles zweitgrößter Stadt Valparaíso (Franklin 2016). In Rosario, Argentinien, hat Ciudad Futura über zehn Jahre damit verbracht, nichtstaatliche Institutionen außerhalb des Rathauses aufzubauen und unterstützt diese nun seit gut zwei Jahren mit seinen drei Abgeordneten auch von innerhalb des Rathauses, um den Wandel voranzutreiben (Baird 2016).
Ein neuer politischer Raum
Bisher waren die internationalen Verbindungen zwischen diesen Bewegungen vor allem auf den bilateralen Austausch über die Organisation von Taktiken oder politischen Diskussionen beschränkt. Aber die Möglichkeit, einen neuen politischen Raum mit all diesen vielfältigen Erfahrungen zu eröffnen, ist verlockend. Die Antwort auf die Einladung von Barcelona en Comú zur Konferenz Fearless Cities (http://fearlesscities.com/about-fearless-cities, an der sich über 600 TeilnehmerInnen aus mehr als 180 Städten registriert haben, deutet darauf hin, dass es bereits das latente Bewusstsein für eine gemeinsame munizipalistische Identität gibt und Lust vorhanden ist, die globale Zusammenarbeit zu vertiefen.
BürgermeisterInnen und PolitikerInnen aus Berkley, Attica, Grenoble, Madrid, Barcelona, Neapel, Valparaíso, Belo Horizonte, Coruña u.a. bei der Fearless Cities Konferenz in Barcelona, Juni 2017 (c) Barcelona en ComúDas ist wichtig, denn die Konsolidierung und Erweiterung des Munizipalismus weltweit könnte über die Fähigkeit jeder einzelnen Plattform entscheiden, ihren Ziele langfristig näher zu kommen. Letzten Endes ist eine der größten Beschränkungen des Munizipalismus die Schwierigkeit, die sich in der Auseinandersetzung mit grenzüberschreitenden Mächten und Interessen ergibt: transnationale Spekulationen am urbanen Grundstücks- und Immobilienmarkt, die Bedrohung von lokalen Ökonomien und ökologischer Nachhaltigkeit durch multinationale Konzerne, Vertreibung und erzwungene Migration. Nur die Antwort eines starken Netzwerks wird in der Lage sein als Gegengewicht zur Zentralregierung und der Macht der Konzerne in diesen Bereichen zu fungieren. Es wird an den munizipalistischen Bewegungen selbst liegen, die Blaupause für einen Internationalismus für das 21. Jahrhundert vorzulegen. Ein Internationalismus, der formale bürokratische Strukturen überwindet und die Arbeitsweise nutzt, die den Kommunismus selbst definiert: konkret und zielorientiert, feministisch und kooperativ, radikal und dennoch pragmatisch. Nur auf diese Weise, durch unendlich viele mutige Aktionen, durch den Glauben an den sich verstärkenden Effekt von tausend kleinen Siegen, können wir eine globale Alternative zu einer Welt in der Krise aufbauen.
Der Artikel ist (auf Englisch) erstmals auf der Website von Open Democracy erschienen.
Übersetzung Christoph Laimer.
Kate Shea Baird lebt in Barcelona und arbeitet in der Interessenvertretung für lokale Demokratie und Dezentralisierung. Sie hat Philosophie, Politik und Ökonomie an der Universität Oxford und European Thought am University College London studiert.
Kate Shea Baird lebt in Barcelona und arbeitet in der Interessenvertretung für lokale Demokratie und Dezentralisierung.
Alagna, Federico & Sakalis, Alex (2015): How to change a city from the bottom up: an Italian example. Verfügbar unter: www.opendemocracy.net/can-europe-make-it/federico-alagna/how-to-change-city-from-bottom-up-italian-example.
Baird, Kate Shea (2016): How to build a movement-party: lessons from Rosario’s Future City. Verfügbar unter: https://www.opendemocracy.net/democraciaabierta/kate-shea-baird/how-to-build-movement-party-lessons-from-rosario-s-future-city.
Black Women of Brazil (2016): Áurea Carolina earns the most votes for city council in Belo Horizonte, Brazil’s third largest metropolit an area; will propose salary reduction of city councilors. Verfügbar unter: https://blackwomenofbrazil.co/2016/10/10/aurea-carolina-earns-the-most-votes-for-city-council-in-belo-horizonte-brazils-third-largest-metropolitan-area-will-propose-salary-reduction-of-city-councilors.
Bollier, David (2012): The Mayor of Naples Champions the Commons. Verfügbar unter: www.bollier.org/mayor-naples-champions-commons.
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