Rudi Gradnitzer

Rudi Gradnitzer ist Ökonom und lebt in Wien.


Schwanzer, so lautet der simple Titel einer neuen Graphic Novel, erschienen im Schweizer Verlag Birkhäuser. Vom Cover starrt einem ein kräftiger, untersetzter Mann im Anzug grimmig in die Augen. Das Buch ist haptisch und optisch hochwertig aufgemacht, besticht durch dickes Papier und eine schöne Ausstattung. Der gefällige und konventionelle Stil der Illustrationen von Benjamin Swiczinsky wird durch die Verwendung von Originalplänen und ganzseitigen Darstellungen der fertigen Häuser aufgelockert. Leider hat das Buch aber auch einen Inhalt, nämlich die belanglosen Stationen einer typischen Nachkriegskarriere eines österreichischen TU-Absolventen der Architektur und Nazi-Kollaborateurs. Solche gab es unter den Architekten, wie in anderen Bereichen der österreichischen Gesellschaft, sehr viele. Erwähnt seien etwa Georg Lippert, Roland Rainer (siehe dérive 74), Norbert Schlesinger oder Leo Kammel. Sie alle konnten sich, wie Schwanzer, erfolgreich in die Zweite Republik integrieren. Diese Architekten-Generation profitierte vom Zweiten Weltkrieg häufig doppelt: Einerseits studierten sie vor 1945 fernab der Front oder sammelten Berufserfahrung als Planer und Bauleiter kriegswichtiger Bauten. Andererseits transformierten sie sich nach der Befreiung wie eine Herde Chamäleons zu gefragten Architekten in der Ära des Wiederaufbaus, wo es durch die zahlreichen Kriegsschäden zwar viele Bauaufgaben, aber nur wenig Personal gab, waren ja viele KonkurrentInnen in den Jahren zuvor aus politischen, »rassischen« oder anderen Gründen vertrieben oder ermordet worden.
Auch Schwanzer machte 1941 sein Diplom an der TU Wien. Im selben Jahr wurde er zum Wehrdienst eingezogen, aber bereits kurz darauf als Planer zum Baudienst nach Polen versetzt. 1942 begriff er seine Aufgabe als Architekt im Generalgouvernement so: »Keine Aufgabe darf uns im Osten als zu gering oder als unüberwindlich erscheinen, wenn dieser durch das Blut unserer Kameraden erkämpfte Boden wieder ein fester Bestandteil des Reiches werden soll.« (siehe S. 58 seiner Dissertation Neues Bauen im befreiten Oberschlesien, TU Wien, April 1942.) Den »deutschen Osten« wollte er »von allen Spuren der Verfallzeit und der Fremdherrschaft säubern« (S. 17). Er forderte: »Hand in Hand mit dem neuen Bauschaffen muß aber die Bereinigung der Dörfer und Städte von allen Spuren der Verfallszeit und der p o l n i s c h e n W i r t s c h a f t [im Orig. gesperrt] gehen.« (S. 3)
Sein erster Einsatzort war der Kreis Rybnik, nur 40 Kilometer von Auschwitz entfernt. Später werkte er für die Bautruppe der Luftwaffe in Wrocław. Kaum denkbar, dass er während seines Kriegsdienstes von 1941 bis 1945 nichts von Zwangsarbeit und der »Endlösung der Judenfrage« mitbekommen hat. Die Fotos seiner Dissertation stammen von der »Deutschen Arbeitsfront, Buchwald, Kattowitz«. 1945 flüchtete er vor der Roten Armee in die amerikanische Besatzungszone.
Schwanzer überstand den Krieg als Planer und Bauleiter unverletzt, wohlgenährt und gut. 1946 sucht er in Paris Kontakt zu Le Corbusier, einem Mitarbeiter der Vichy-Kollaborationsregierung. Während Schwanzer unter den Nazis noch die »liberalistische Gesinnung« geißelte, sich darüber freute, dass »der Nationalsozialismus die Vorherrschaft des privatwirtschaftlichen Denkens gebrochen [hat]«, bzw. »Rentabilität und Reklamebedürfnis« für »den heutigen trostlosen Zustand« der Architektur verantwortlich machte (S. 37 und 39 seiner Diss.), zeigt die Graphic Novel die erstaunliche Lernfähigkeit Schwanzers. »Diese Werbung ist 
unbezahlbar!«, kommentiert er, als bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1972 in München das BMW-Logo über dem 
Olympiastadion ragte und via TV die ganze Welt erreichte. Das Verwaltungsgebäude der Bayerischen Motorenwerke, auf dem das Logo prangt, gilt als sein größter Erfolg.
Schwanzer war mit einem Œuvre von 400 Gebäuden sicherlich ein äußerst produktiver Architekt. Mit seinen Bauten für die Weltausstellungen in Brüssel und Montreal, dem Philips-Haus in Wien, dem Zementwerk in Mannersdorf und dem so genannten 20er-Haus, ebenfalls in Wien, oder auch der Berufsschule in der Landeshauptstadt St. Pölten schrieb er sich dauerhaft ins visuelle Gedächtnis dieses Landes ein. Von 1959 bis 1975 hatte er eine ordentliche Professur an der TU Wien inne, dazu kamen in späteren Jahren etliche Gastprofessuren. Es ist jedoch eine groteske Überschätzung eines ästhetischen und 
politischen Opportunisten, wenn Karl Schwanzer in der Graphic Novel in einer Reihe mit Otto Wagner, Adolf Loos und 
Josef Hoffmann platziert wird. Der chronologische Bilderfluss plätschert abgesehen von solchen ärgerlichen Anmaßungen gefällig dahin. Unterbrochen wird er durch gelegentliche ganzseitige Panels in schwarz-weiß, die mit Sinnsprüchen von Schwanzer garniert sind. Der letzte Satz von Schwanzer lautet: »Das Hinabtauchen in die eigene Tiefe, der Wahrheit auf den Grund gehen, kann man nur selbst.« Ob Schwanzers Selbstmord in Zusammenhang mit seiner persönlichen Verstrickung in den Nationalsozialismus zu sehen ist, bleibt jedoch, wie fast alle Facetten seines Familien- und Privatlebens, ausgespart.
Der kürzlich verstorbene Doyen der österreichischen Architekturtheorie, Friedrich Achleitner, bezeichnete die NS-Kontinuitäten als »ungeschriebenes Kapitel der österreichischen Architekturgeschichte«. Er schrieb: »Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß aus der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges sich zunächst jene Kräfte am stabilsten und widerstandsfähigsten erwiesen, die ihn eigentlich verursacht haben.«
Karl Schwanzers Dissertation Neues Bauen im befreiten Oberschlesien ist bis heute an der TU als »Ideologisch bedenkliche 
Literatur« eingestuft und in der Universitätsbibliothek nur beschränkt einsehbar. Die Entscheidung des Wien Museums, welches dank der unablässigen Bemühungen seines Sohnes und Herausgebers der Graphic Novel Martin Schwanzer, im Mai 2018 den Nachlass von Schwanzer Sen. übernahm und seither mit öffentlichen Mitteln archiviert und erhält, sollte überdacht werden. Das Mindeste wäre jedoch, die bisher verharmlosten, bzw. unbeachtet gebliebenen Jahre des Nationalsozialismus in Karl Schwanzers Biografie, einer ebenso akribischen Untersuchung zu unterziehen, wie seine berühmt gewordenen Bauten.


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