» Texte / 100 Jahre Zürcher Wohnbaugenossenschaften

Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Die Zürcher Wohnbaugenossenschaften (WBG Zürich) feiern 2019 ihren 100. Geburtstag mit einem ganzen Reigen an 
Veranstaltungen. Dazu zählen zahlreiche Debatten, eine Ausstellung und eine Tagung, die Anfang Dezember im Zentrum Architektur Zürich (ZAZ) stattgefunden hat. Während sich die Debatten und die Ausstellung der eigenen Geschichte und den eigenen Fragestellungen widmen, weitete die internationale Tagung die Perspektive und lud AktivistInnen und ForscherInnen aus zahlreichen europäischen Ländern und Südamerika ein.
        Die Aktivitäten der Zürcher Genossenschaften stoßen seit Jahren über die Schweizer Landesgrenzen hinaus aufgrund ihrer hohen Innovationskraft auf besondere Beachtung, weswegen ein Blick nach Zürich stets neue Erkenntnisse verspricht.
        Ähnlich wie in vielen anderen Städten wuchs auch in Zürich mit der Industrialisierung die Bevölkerung der Stadt stark an. Die Wohnungsfrage war akut, 1893 entstand mit der Zürcher Bau- und Spargenossenschaft die erste Wohnbaugenossenschaft. Weitere Genossenschaftsgründungen folgten. Die heute größte Wohnbaugenossenschaft der Schweiz, die ABZ, hat ihre historischen Wurzeln ebenfalls in diesem Zeitraum, 1919 wurde schließlich der Dachverband Wohnbaugenossenschaften Zürich gegründet.
        Als Junge Wilde werden in Zürich diejenigen Genossenschaften bezeichnet, die Anfang der 1990er, also in der Zeit, als in Wien die Sargfabrik und in Freiburg das Mietshäuser Syndikat gegründet worden sind, ihre alternativen Projekte umsetzen. Dazu gehören Genossenschaften wie Kathargo, Dreieck oder Kraftwerk1 (siehe Interview mit Andreas Wirz in dérive 77). Sie brachten neue Wohntypologien, beendeten den Ausschluss von Nicht-SchweizerInnen, setzten auf Kollektivität und Selbstorganisation. In den letzten Jahren stießen besonders die Projekte mehr als wohnen, eine genossenschaftliche Kollektivanstrengung anlässlich eines weiteren Jubiläums (100 Jahre gemeinnütziger Wohnbau in Zürich) und die Genossenschaft Kalkbreite auf großes internationales Interesse.
        Was sind aus Wiener Perspektive betrachtet die Besonderheiten dieser Projekte? Ganz allgemein ist die Risikofreude hervorzuheben, mit der in Zürich Neues ausprobiert wird. In dieser Hinsicht sind die erwähnten Projekte eher mit den als Verein organisierten österreichischen Baugruppen und Hausprojekten als mit den hiesigen Genossenschaften zu vergleichen. Die Genossenschaft als Rechtsmodell feiert in Österreich erst seit kurzem eine Renaissance, die sich beispielsweise an der Gründung der Wohnbau-Genossenschaft WoGen ablesen lest. Die Risikofreude zeigt sich etwa an den Wohntypologien. Clusterwohnungen, die in Österreich erst bei kommenden Projekten umgesetzt werden, sind bei neuen Projekten in Zürich oft schon eine Selbstverständlichkeit. Hallenwohnungen, Wohnräume, die im Selbstausbau fertiggestellt werden, entstehen gerade im Zollhaus, dem zweiten Projekt der Genossenschaft Kalkbreite.
        Mit schlauen Lösungen versuchen Zürcher Genossenschaften, aus ökonomischen und ökologischen Gründen, die Wohnfläche pro Kopf zu senken. Im Durchschnitt verfügen BewohnerInnen von Genossenschaftswohnungen in Zürich über für Schweizer Verhältnisse geringe 38 m2 Wohnraum, im Vergleich zu 46 m2 bei herkömmlichen Mietwohnungen und 55 m2 im Wohnungseigentum. Engagierte Genossen-schaften wie Kraftwerk1, mehr als wohnen oder Kalkbreite versuchen diese Flächen weiter zu senken, ohne dass sich diese Flächenreduktion negativ auf die Wohnqualität auswirkt. Anders als bei den Smartwohnungen in Wien, bei denen meist nur die Wohnfläche eingespart wird, gelingt das durch viele Gemeinschaftseinrichtungen, die individuelle Flächen ersetzen. Bei einigen Zürcher Genossenschaften ist der Verzicht auf den Besitz eines privaten PKWs Voraussetzung, um eine Wohnung beziehen zu können. Diese aus österreichischer Sicht radikale Maßnahme empfinden in Städten mit gut ausgebautem öffentlichen Verkehr und Car-Sharing-Angeboten viele mittlerweile allerdings fast als einen Zugewinn an Lebensqualität. Für den Wohnbau ist dieses Verbot allerdings nicht nur eine ökologische, sondern auch eine ökonomische Maßnahme, weil sie den Bau von teuren Garagenplätzen erspart. Die Mieten in den Zürcher Genossenschaften liegen übrigens im Schnitt um ein Viertel unter denjenigen von kommerziellen VermieterInnen. In der Ausstellung Wie wollen wir wohnen? nimmt die Geschichte der WBG natürlich Raum ein, im Mittelpunkt stehen jedoch die Qualitäten genossenschaftlichen Wohnens. In filmischen Porträts erzählen BewohnerInnen von Genossenschaftswohnungen über ihre Hausgemeinschaften, die gegenseitige Hilfe, die günstigen Mieten, die hohe Wohnqualität und vieles mehr. Der Anteil des gemeinnützigen Wohnbaus beträgt in Zürich im Moment 27 Prozent, der Anteil der genossenschaftlichen Wohnungen 23 Prozent. Bei einer Volksabstimmung im Jahr 2011 entschied die Zürcher Bevölkerung, dass der Anteil von gemeinnützigen Wohnungen an allen Mietwohnungen bis 2050 auf ein Drittel erhöht werden muss. Ein ehrgeiziges Ziel, dem aktuell nicht zuletzt die hohen Bodenpreise im Weg stehen. In diesem Punkt ist Wien mit der neuen Widmungskategorie »geförderter Wohnbau« und gedeckelten Bodenpreisen einen Schritt weiter.
        Die Tagung Tackling the global housing challenges, ebenfalls Teil des Programms, brachte Fachleute und AktivistInnen aus zahlreichen europäischen Ländern und Südamerika zusammen, die Geschichte und aktuelle Situation des genossenschaftlichen Wohnbaus ihrer Länder kompakt präsentierten und diskutierten. Überraschend war die Vielfalt der Situationen und die komplett unterschiedliche Bedeutung von Wohnbaugenossenschaften in den einzelnen Ländern. Es ging etwa um Staaten wie Griechenland, in denen es praktisch keinen genossenschaftlichen Wohnbau gibt oder Norwegen und Schweden, wo es eine große Tradition gibt, die Genossenschaften aber seit vielen Jahren keinen günstigen Wohnraum mehr zur Verfügung stellen bis zu Ländern wie Uruguay, wo es eine starke und erfolgreiche genossenschaftliche Bewegung gibt, die in ihrer Ausrichtung und ihren Methoden der Selbsthilfe an die SiedlerInnenbewegung in Österreich vor 100 Jahren erinnert. Die Tagung zeigte, dass, obwohl es durchaus Verbindungen, Solidarität und Gemeinsamkeiten zwischen den teilnehmenden Personen und Initiativen gab und mit ICA auch ein Genossenschaftsdachverband existiert, der Bedarf nach Austausch, Diskussion und gegenseitiger Unterstützung groß ist. Auch dafür war die Tagung eine wichtige Veranstaltung.
        Ein wenig täuschen die innovativen Zürcher Projekte natürlich darüber hinweg, dass das Gros der alteingesessenen Genossenschaften auf Sicherheit setzt und konventionelle Wege geht, doch je öfter sich Neues und Experimentelles bewährt und von der Bewohnerschaft geschätzt und angenommen wird, desto wahrscheinlicher ist, dass die Traditionellen nachziehen. Positiv an der Ausstellung ist, dass sie ein breites Publikum anspricht und nicht vorrangig für Fachleute konzipiert ist, auf die das Vortrags- und Diskussionsprogramm zugeschnitten ist. Generell zu wünschen wäre ein stärkerer internationaler Diskurs über gemeinnützigen und genossenschaftlichen Wohnbau, der nicht 
isoliert, sondern disziplinen- und länderübergreifend stattfindet, auch ganz ohne Jubiläum. Den Zürcher Genossenschaften jedenfalls alles Gute für die nächsten 100 Jahre – wie wär’s mit drei Drittel?


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