Rudolf Kohoutek

Rudolf Kohoutek arbeitet freiberuflich zu Themen im Bereich Architektur, Wohnen, Stadtentwicklung, Kultur und Planungsmethoden.


Noch ist genug Stadt. Doch das »Städtische« ist ein flüchtiges Medium, das durch allerlei Interventionen und Programme stetig verloren geht. Magisch war dieses Urbane von Anbeginn, künstlich produziert in seinen physischen Beständen, Institutionen, Zeichen, als Ganzes fast deckungsgleich mit dem herrschenden sozialen Raum. Diese Stadt war aber auch voller asozialer Nischen des privaten Wohnens, widerständiger Netzwerke und schmutziger Winkel. Je schmutziger, größer, unübersichtlicher und anonymer, umso »urbaner« waren die alten Städte. Das eigentlich Städtische war nie verfügbar, kein Programm und keine Option, nie mehr oder weniger als ein Nebeneffekt der industriell induzierten Verstädterung, an den Schnittstellen von Luxus und Armut.
Neben der Verdichtung von Arbeitsstätten, Amtshäusern, Bahnhöfen, Verkaufsflächen und Kulturbauten war Stadt vor allem auch das, was aus der unendlichen Zahl privater Wohnungen resultierte. Das Städtische war entscheidend konstituiert durch sein Gegenteil: die Masse des privaten Wohnens. Heute ist das Wohnen im Begriff, sich von der Stadt zu verabschieden. Und mit der Verflüchtigung dieser Differenz löst sich auch das Städtische auf – oder verändert es sich bloß?

Wohnen versus Stadt

Wohnungsneubau wird immer weniger als anonyme Addition von Wohnungen in urbanen Regalen vorgestellt, vielmehr als bebilderter »Prospekt«, als integriertes »Produkt« und als »Dienstleistung« am unübersichtlichen Markt der neuen Lebensstile. Einfamilienhaus, Penthouse, Loft, Wohnhochhaus, Gemeinschaftswohnprojekt und gated community sind die Leitmarken des neuen Wohnens geworden. Deren BewohnerInnen gehen nicht mehr ins Beisel an der Ecke, vielmehr mit Lokalführer an den bestellten Tisch im neuen Lokal: Essengehen als Projekt.
Heute wird der Wohnungsneubau nicht mehr als einzelnes Gebäude in der Stadt geplant, sondern als autarkes, ortloses Projekt mit Verkehrsanschluss, als »Produkt« für neue Zielgruppen. Davon nochmals gesondert haben urbane Allergien »neue Wohnprojekte« mit spezifischen Abgrenzungsansprüchen entstehen lassen, Häuser von urbaner Niedrigenergie. »Von Gesellschaft zu Gemeinschaft« titelt denn auch ein US-amerikanischer Aufsatz zu den neuen Wohnenklaven.
Bedeuten diese stadtlosen Wohnleitbilder, dass sich die »Nachfrage nach Stadt« aufgelöst oder zumindest tiefergehend verändert hat? Stehen die ArchitektInnen und StadtplanerInnen im Schlepptau der neuen Wohnbauträger, und diese am Gängelband ihrer KundInnen, der künftigen BewohnerInnen? »Stadt« (neu) zu definieren wird den Wohnbauträgern und ihren ArchitektInnen kaum gelingen, auch wenn sich letztere – nicht ganz ohne historische Berechtigung – als zentrale Sensoren des durchgängigen gesellschaftlichen Raums positionieren.
Auch PolitikerInnen werden – zwischen verstreuten Wohn- und anderen Investmentprojekten – dieses unübersichtliche Wirkungsfeld »Stadt« kaum retten wollen. Und deren Auftrag an die Stadtplanung lautet schlicht, die räumlichen Rahmenbedingungen für eine sich liberalisierende und ökonomisierende Gesellschaft zu regeln und dabei die räumlichen Auswirkungen auf die individuellen Lebenslagen so gut wie möglich abzufedern. Die Additivität der in den Stadtplan eingetragenen und umgesetzten »Wohnprojekte« lässt das Städtische in den Hintergrund treten und ähnelt eher einem Fremdenverkehrsprospekt oder der Homepage eines Unternehmens, auf der die Highlights plastisch hervorgehoben und verlinkt sind.

Die neue Produkt-, Projekt- und Themenhaftigkeit des Wohnens

Der hohe Einsatz von Seiten der investierenden Wirtschaft (der ProjektentwicklerInnen und ProjektanbieterInnen, ob es die Banken, Bauträger, die Bauwirtschaft, die MaklerInnen, die ArchitektInnen oder die großen Handelsketten sind) muss aber doch etwas mit der realen Nachfrage zu tun haben. Warum also wird heute nicht mehr das »Wohnen in der Stadt« nachgefragt, sondern ein »Wohnen in Projekten«? Warum findet das Einkaufen nicht mehr / immer weniger als ein »Einkaufen in der Stadt« statt, sondern als Einkaufen in Projekten, das Einkaufen als Projekt? Und dieselben Fragen stellen sich bei der Freizeit, Kultur etc.
Wie die Gemeinschaftswohnprojekte nicht müde werden zu betonen: Angefangen hat auch hier alles mit den Avantgarden, der Bohème und Gegenkultur. Von den »Kommunen« von 1968 über die Wohngemeinschaften und Kinderläden der 70er Jahre, das Revival der Genossenschaftsbewegung zu den Themen-Siedlungen und Wohnprojekten der 90er Jahre. Die seit einigen Jahren zunehmend für die Märkte der verschiedenen Lifestyles angebotenen Wohnprojekte wären aber vermutlich auch ohne diese »revolutionär-alternativen« Zwischenschritte entstanden und können ja durchaus an zahlreiche stadtfeindliche Modelle aus der Geschichte und insbesondere der »Moderne« pro- und antifaschistischer Prägung anknüpfen.
Der Erfolg oder Nicht-Erfolg bzw. die Ausdifferenzierung dieser Wohn-Produkte hat mit den verschiedensten Variablen zu tun:

  • der Entschluss, im Wohnen wenigstens ansatzweise aus den gewohnten Zusammenhängen herauszutreten, setzt Menschen voraus, die fähig sind zu kommunizieren und sich selbst zu organisieren;
  • die immer gefährdete, aber pflichtgemäße »Individualisierung« wird auf das eigene »Wohnprojekt« verlagert, nachdem Beruf, Bildung, klassische Familie usw. immer weniger - oder äußerst unsichere - Beiträge zur »Identität« liefern können;
  • die Versammlung von Freunden und Gleichgesinnten innerhalb der eigenen Wohnhausanlage entschärft das knappe Zeitbudget und soll zu Erleichterungen in Haushaltsführung und Kindererziehung führen;
  • die Ökonomisierung des kleinen Luxus, indem innerhalb des eigenen Wohnbereichs die Sauna, das Schwimmbad, etc. erschwinglich werden;
  • bestimmte, an Therapiezentren, Alternativschulen und Bioläden geschulte Umgangsformen, viel Pflanzen und Holz, Ökobewusstsein, Vorlieben für ähnliche Images und Sounds usw. bilden die Basis für einen gemeinsamen Stil und blenden Störendes aus;
  • die Hoffnung schließlich, durch aktive Mitgestaltung bzw. kleines gemeinschaftliches Eigentum größere Freiheitsgrade im Wohnen und im individuellen Leben bei gleichzeitig verstärkter sozialer Bindung zu erlangen.

Zum sogenannten »Themenwohnen« werden diese Wohnprojekte dann, wenn ein oder zwei markante Qualitäten und Facilities als Aufhänger und Werbeeffekt für bestimmte Zielgruppen fixiert werden: Autofreie Siedlung, Frauenwerkstatt, betreutes Wohnen, Seniorenresidenzen, Golf-Siedlung, Öko-Häuser und Öko-Städte, Service-Häuser, aber auch Loft-Projekte, bei denen eine Synergie von alten und neuen Selbständigen im kreativen Sektor (Werbung, neue Medien, Software, Beratung, Therapie, Architektur, Design, etc.) innerhalb einer Anlage erreicht werden soll. Manche der edleren neuen Wohnprojekte ließen sich auch als »Werkssiedlungen« für die Eliten der Globalisierung beschreiben, andere als Selbsthilfemodelle für den freien Fall in die liberalisierte Dienstleistergesellschaft usw.
Zu gated communities werden solche Projekte dann, wenn der längst aufgegebene »urbane« Kontext zusätzlich durch Abschließungen und Sicherheitsprogramme ersetzt worden ist.

Inselurbanismus und Netzwerk-Stadt

Wo die »Stadt« im alten Sinn in Resten überlebt, wird sie selbst immer mehr zu einem »Produkt«. Und ein »Produkt« ist natürlich abgegrenzt, hat einen Namen und ist produziert worden, gleichgültig, ob das Covent Garden, Spittelberg, Notting Hill oder Copa Kagrana heißt. »Rom offene Stadt«, ein Filmtitel aus der Vergangenheit der Stadt.
Was ist also passiert: im Übergang von der »Offenheit« der Stadt (die alte Klassenfragen einmal hintangestellt) zur Stadt als Produkt, oder besser: der Stadt als Schaufenster von »Produkten«, wozu auch die eigene Wohnanlage, der Themenpark, die gated community gehören – oder der Ausflug in die Themensiedlungen seiner FreundInnen? Handelt es sich dabei nicht einfach um neue Vorstellungen von Stadt, um eine mehr oder weniger erfolgreich praktizierte »neue städtische Lebensweise«, die sich nur schlecht für »kritische« – oder gar pessimistische – Essays eignet?
Wenn »Stadt« der Inbegriff und der konkrete – und in den großen Metropolen »unendliche« – sozioökonomische und soziokulturelle Raum des jeweiligen »Empire« war, wie auch die Brutstätte aller seiner KritikerInnen und ExilantInnen, so hat sich diese Stadt tatsächlich tiefgreifend verändert. Die »Stadt« ist nicht mehr bloß – nach Lefèbvre – zur vorherrschenden Lebensform geworden, die als »Städtisches« das »Ländliche« wie das »Industrielle« in sich aufgenommen hat. Die Stadt als Mega-Chiffre hat – mit den elektronischen Medien als Agenten der Globalisierung – ihre Medialität gewechselt. Die Welt ist kein »Dorf« geworden, sondern eine Netzwerk-Stadt – die als Stadt nur virtuell existiert –, eher wohl ein Konglomerat von Dörfern, oft auch nur von Schrebergärten.
Wenn es ein Merkmal von Stadt gewesen sein soll, mehr als gelegentlich jemandem Unbekannten zu begegnen, so gilt dies nunmehr für das Global Village des www, den globalen Tourismus, das Auftauchen unwahrscheinlicher KollegInnen in globalisierten Firmen-, Wissenschafts-, Freizeit-, Kultur- oder Chatroom-Zusammenhängen. Oder auch nicht. Die Stadt nähert sich dem virtuellen Modell an, und nicht umgekehrt ... Der Übertritt vom eigenen Freundeskreis oder einem abgegrenzten Computerspiel in die Arbeitswelt oder ins Telebanking im world wide web wird ohnedies kaum mehr bemerkt: Über allem steht die universell kompatible Benutzeroberfläche Marke Microsoft. Die Welt – wie die Stadt – ist flach und geschichtet in Form von Hyperlinks.
Der Stadtraum wird eine beliebige Freizeitvariante oder ein Rohrpostsystem von einem Ort zum anderen, kommerziell wie vom Zeit-budget optimiert in den großen Zentren und Orten (aber auch in jenen Kleinstädten oder städtischen Randlagen, die nahe an den Bahn-höfen und Flugplätzen situiert sind). Am ehesten sind noch die Bahnhöfe – mehr als die Flugplätze – so etwas wie »Stadterinnerungen«, bevor auch sie in Shopping- und Büro-Centers umgebaut worden sind: Phantomschmerzen von Ankunft und Abschied, Aufbruch in noch nicht vom globalen Investmentkapital codierte Räume. Zunächst weitgehend unbemerkt haben sich die Städte zumindest verdoppelt oder vervielfacht:
( I ) in eine funktionale Netzwerk-Stadt, in ein von effektiver Infrastruktur zusammengefügtes Netz von »Orten«, die für uns wichtig oder unverzichtbar sind als Orte des Gelderwerbs oder der primären Bedarfsdeckung (semiotisch-räumlich-funktional sind das Verknotungen, Verklumpungen des ehemaligen durchgängigen, »offenen«, städtischen Raums);
( II ) in eine Kulissenstadt des »Urbanen«: als Orte der von der Projekt-Produkt-Stadt uneingelösten Rest-Bedürfnisse, Erinnerungszonen, Echoräume der Stadtgeschichte des 16. bis 20. Jahrhunderts;
( III ) vor allem aber in eine Ansammlung von »Inseln des Privaten« – ausgebreitet in einem Raum ohne Eigenschaften, einer implodierten oder explodierten »Stadt« als Auslaufmodell.

Residuen des Urbanen

Für LiebhaberInnen der Stadt sind – in diesem Transformationsprozess der Raumwelten – bis auf weiteres die ehemaligen Vorstädte, »Zwischenstädte« (Sieverts), die ehemaligen ArbeiterInnenquartiere und verlassenen Industrieviertel von Interesse, bevor auch sie im virtuellen Raum der »Projekte«, »Produkte« und »Prospekte« verschwunden sind. Dann werden nur mehr die außereuropäischen Favelas als urbane Wunschorte übrig bleiben, die im übrigen schon heute tendenziell mehr Urbanität aufweisen als die Mariahilfer Straße oder der Graben.
Aber gerade ein solcher Blick auf die widerständigen Gebiete, wo noch Reste des »alten Städtischen«, der »anonymen Urbanität« hausen, wird diese demnächst als Investmentzone für den semiotischen Kahlschlag adressieren. Entgegen dem Vorwurf, durch die Brille der alten Urbanität die Musealisierung noch der letzten Stadtteile zu betreiben, wird sich dennoch die Frage stellen, ob für diese »Zonen« ein »Schutz« vorzuschlagen wäre: Denkmäler der Urbanität, Schutzzonen des Städtischen, »Stadtpark« in Ergänzung zu den »Naturparks«....?
Klar ist, dass die historischen Innenstädte unter Gesichtspunkten dieses »Städtischen«, »Urbanen«, der »offenen Stadt« etc. längst aufgegeben sind. Da helfen auch keine Aktionen, welche zu verhindern versuchten, dass die SandlerInnen, AusländerInnen, Punks oder Drogensüchtigen aus diesen Einkaufs- und Flaniermeilen vertrieben werden. Da ist »Stadt« immer schon vertrieben, so dass selbst die BettlerInnen oder Punks nur mehr als Dekorstück in Erscheinung treten und der eine Spende erteilende Ex-Flaneur nur ein Zitat der Möglichkeit einer post-urbanen Geste ist – denn »urban« war bekanntlich einmal, wer »ohne Aufhebens über den am Gehsteig schlafenden Clochard gestiegen ist«...[1]
Alle belebteren Teile der Stadt gehören zum Netzwerk aller Tourismus-, Lifestyle, Freitag-Abend- oder Samstag-Vormittag-Projekte, aller Punschstädte, 365-Tage-Weihnachsmärkte, aller Rund-um-die-Uhr-Silvesterpfade. Vielleicht bleiben dann nur mehr die großen, alten, dunklen Kirchen als Residuen des Urbanen, wie es vor noch nicht allzu langer Zeit die Techno-Raves in Industriehallen ohne Adresse waren, die leeren Gasometer oder ein verfallender Messepalast.
Offene Stadtteile zu entwickeln, die die Falle der gated communities vermeiden, mag dennoch eine sinnvolle Planungsaufgabe für die Zukunft darstellen, ebenso wie der Rückbau der Cappuccinisierung der öffentlichen Räume. Wirkliche »Urbanität« als Lebensform war vermutlich immer ein Minderheitenprogramm, nicht allerdings war dies der »öffentliche Raum« als politischer Letzt-Referent, als Raum der freien Zugänglichkeit aller Adressen einer Stadt, Ort der freien Versammlung, der Demonstration von Interessen, bevor sie auf Video aufgezeichnet worden sind.

Fußnoten


  1. nach Hans-Paul Bahrdt ↩︎


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