Paul Rajakovics

Paul Rajakovics ist Urbanist, lebt und arbeitet in Wien.


»Als uns klar wurde, was sie mit ,bon soir‘ eigentlich meinten, war das wie ein Hieb aufs Kinn: Wir hatten die vielen Gefängnisse satt. Als uns bewusst wurde, was sie mit ,bon jour‘ tatsächlich wollten, war das wie ein Hieb auf die Nase: Für uns gab es keinen Segen mehr. Als uns klar wurde, was das Wort ,merci‘ bedeutete, war das wie ein Hieb auf die Kehle: Jedes Schaf verbreitet mehr Schrecken als wir … als uns bewusst wurde, was mit ,le diable‘ eigentlich gemeint ist, war das der Schlag, der uns wahnsinnig gemacht hat: Wir karren Mist und verrichten Dienste für Mistkerle.«

Dieser Text ist nicht von Frantz Fanon, er stammt nicht einmal aus dem Algerienkrieg. Er stammt konkret aus dem Buch Le déracinement von Pierre Bourdieu bzw. steht außerdem in großen Lettern mitten in der eben zu Ende gegangenen Fotografieausstellung von Bourdieu in den Räumen der Camera Austria im Grazer Kunsthaus. In Wirklichkeit ist dieser Satz aus Hanoteau, Poésies populaires de la Kabylie du Djurdjura von 1862, also ca. hundert Jahre bevor Pierre Bourdieu seine Feldforschungen im Rahmen seines Militärdienstes in Algerien begann, wo auch die gezeigten Arbeiten entstanden sind bzw. seine Zuneigung zu den Kabylen begonnen hat. Es sind jedenfalls Arbeiten, sowohl im Sinne von Fotoarbeiten, da es sich zweifelsohne um künstlerisch qualitativ hochwertige und klar strukturierte Fotoserien handelt, als auch Arbeiten im Sinne soziologischer Feldforschung, wo Fotografie zum analytisch-soziologischen Instrumentarium wird.
Im Interview mit Franz Schultheis, im Vorfeld dieser Ausstellung, sagt Bourdieu auch klar: „Es ist völlig normal, zwischen dem Inhalt meiner Forschungen und meinen Fotos einen Bezug herzustellen“, und an anderer Stelle bemerkt er, dass er sogar im Zusammenhang mit einem Vertrag mit Kodak überlegt habe, wirklich das Fotografieren zum wesentlichen Standbein werden zu lassen. Seine Fotografie ist also beides, sowohl künstlerisches als auch wissenschaftliches Mittel. Nur wenige Fotos dieser Ausstellung sind davor schon veröffentlicht worden, wie etwa das Foto für den Umschlag von Algérie 60, jedoch stehen sie durchwegs in Zusammenhang mit den Texten Bourdieus. Dies spiegelt auch das Buch wider, das Auszüge aus Le déracinement, la crise de l'agriculture traditionelle en Algérie, Travail et travailleurs en Algérie, Les structures sociales de l´économie etc. beinhaltet, also Texte aus viel älteren Publikationen. Die Fotoserien, die in ihrer Chronologie teilweise noch von Bourdieu selbst vor seinem Tod zusammengestellt worden sind, sind dann mehr oder weniger entsprechend einiger seiner Forschungsfelder benannt bzw. werden in diese einzugliedern versucht: Bilder aus Algerien, Krieg und gesellschaftlicher Wandel in Algerien, Habitus und Habitat, Männer-Frauen, Entwurzelte Bauern, Ökonomie des Elends oder Algier und Bilda, welches explizit durch die Herausgeber Franz Schulheis und Christine Frisinghelli als Bildersequenz von Bourdieu ausgewiesen wird. Bilder, die in ihrer Vielschichtigkeit den durch Frankreich aufgezwungenen Wandel in Ökonomie und Landwirtschaft beschreiben, wie etwa ein Bild von Arbeitern beim Schwefeln von Weinstöcken, oder die vielen Bilder, die sich mit der Problematik der Umsiedlungslager und der Zerstörung kabylischer Häuser und Dörfer beschäftigen. Manche Fotos haben in ihrer schockierenden Aktualität trotz abgehärteter Sehgewohnheiten nichts verloren, wie das Bild, das bei der Beschneidung der Klitoris eines jungen Mädchens (angeblich auf Wunsch des Vaters) entstanden ist.
Überhaupt haben die Bilder von ihrer traurigen Aktualität aus der Zeit des Algerienkrieges nichts eingebüßt, sei es in Bezug auf das neokoloniale Verhältnis „westeuropäischer“ Staaten zu islamisch dominierten Ländern oder die Überheblichkeit westlicher Kulturperzeption gegenüber traditionellen islamischen Wertbildern.Schon die längerfristige Entstehungsgeschichte dieser Ausstellung und die gemeinsam begonnene Arbeit der Kuratoren mit Pierre Bourdieu lassen die Ausstellung zu einem wichtigen Bestandteil des kulturellen Gesamtkapitals von Bourdieu selbst werden, an dem wir nun alle partizipieren können – ein wunderschönes Buch; auch ohne Ausstellung.


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