» Texte / Als die Tabakfabrik Linz noch ein Industriebetrieb war

Florian Huber

Florian J. Huber ist Lehrbeauftragter am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und forscht über Gentrifizierungsprozesse in Wien, Chicago und Mexiko Stadt.


Mit der Schließung der Tabakfabrik 2009 endete die seit 1850 bestehende Tabakproduktion in Linz. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass dies ausgerechnet in jenem Jahr stattfand, in dem sich Linz als Kulturhauptstadt Europas präsentierte und die Stadt am Höhepunkt ihrer langjährigen Positionierungsbemühungen als Kulturstadt stand. Nach der Schließung der Fabrik, eine Folge der Privatisierungspolitik ab Mitte der 1990er Jahre, kaufte die Stadt Linz das Gebäude. Ziel war es ein Cluster der Kreativwirtschaft zu etablieren. Doch die schiere Größe sowie die Denkmalschutzbestimmungen stellen nach wie vor eine Herausforderung für die Nutzung des von den beiden Architekten Peter Behrens und Alexander Popp geplanten und 1935 eröffneten Gebäudes dar. Einige Teile des Gebäudes sind bereits adaptiert und Büroinfrastrukturen wurden installiert. Es wird also wieder gearbeitet. Doch es handelt sich dabei eben nicht um jene Form der industriellen Produktion, die in einer postindustriellen Gesellschaft als unmodern empfunden und daher in Billiglohnländer ausgelagert wird – es ist vielmehr die sogenannte kreative Industrie, die hier Einzug halten soll. Doch wie gestalteten sich eigentlich die Arbeits- und Lebenswelten jener Personen, die in der Tabakfabrik arbeiteten? Dieser Frage gehen die Soziologin Waltraud Kannonier-Finster und der Soziologe Meinrad Ziegler in ihrem Buch Ohne Filter nach. Vor dem Hintergrund der Veränderungen der gesellschaftspolitischen Rahmenbedin- gungen ab 1945 legen die beiden HerausgeberInnen gemeinsam mit weiteren AutorInnen den Fokus darauf, wie die Belegschaft der Tabakfabrik den Aufschwung und den Niedergang dieses Industriebetriebs erlebte und verarbeitete. Im Rahmen einer ethnografisch angelegten Studie erforschten sie die vom Betrieb vorgegebenen Arbeits- und Lebensbedingungen sowie deren Transformationen durch die Krise der staatlichen Industrie, die schrittweise Privatisierung und letztlich die Schließung. In den ersten drei Kapiteln skizzieren die AutorInnen den allgemeinen Rahmen. Neben der sozialhistorischen Einordnung der Tabakproduktion in Österreich wird dabei auf die Hierarchie zwischen Angestellten und ArbeiterInnen, die Arbeitsplatzpolitik sowie auf die unterschiedlichen Teilbereiche der Institution, die neben der Fabrik auch Wohnraum, Kinderbetreuungseinrichtungen und den Sportverein umfasste, eingegangen. Diese sozialpolitischen Maßnahmen waren einerseits Ausdruck der sozialen Verantwortung des Unternehmens gegenüber seinen MitarbeiterInnen und dienten der Etablierung einer langjährigen Bindung an den Betrieb, andererseits waren damit auch Disziplinierungsabsichten verbunden. Den zentralen Teil des Buches – auch im Hinblick auf den Umfang – stellt Kapitel 4 dar. Anhand von sieben exemplarischen Lebensgeschichten, die drei Generationen umfassen, werden unterschiedliche Aspekte des sozialen Wandels in den letzten 60 Jahren erzählt. Diese biographischen Erzählungen, in denen die Transformation von Arbeit, Politik und kulturellem Leben zu Ausdruck kommt, werden durch Zwischenkapitel ergänzt, die etwa Einblick in die technischen Abläufe der Produktion, die verschiedenen Modelle der Arbeitszeitorganisation oder den Sportverein geben. Kapitel 5 und 6 beleuchten schließlich die Umstände der Privatisierung und Schließung der Tabakfabrik aus dem Blickwinkel der politischen Ökonomie. Dabei werden zahlreiche weniger geläufige Hintergrundinformationen geliefert, die es ermöglichen das biographische Material unter neuen Vorzeichen zu lesen. In Kapitel 5 stehen vor allem die Macht- und Grabenkämpfe der Parteien SPÖ und ÖVP im Vordergrund. Doch obwohl die Privatisierung nach der Jahrtausendwende unter der ÖVP-FPÖ-Regierung umgesetzt wurde, kristallisierte sich der politische Wille dazu bereits zuvor heraus. Auch wurden die ersten Schritte dafür bereits unter der SPÖ-ÖVP-Regierung ab Mitte der 1990er Jahre gesetzt. Das sechste Kapitel geht noch einmal auf die Schließung der Tabakfabrik ein. Trotz eines Sozialplans, der ausverhandelt wurde, stellte die Schließung vor allem für langjährige ArbeiterInnen eine persönliche Krise dar, während der Umgang mit den Anforderungen des flexiblen Kapitalismus jüngeren MitarbeiterInnen tendenziell leichter fiel. Das siebte Kapitel bietet schließlich noch einige fotographische Einblicke und im finalen achten Kapitel findet sich eine chronologische Darstellung ab der Gründung der Tabakfabrik im Jahr 1850 bis zu ihrer Schließung 2009. Das Buch Ohne Filter reiht sich in die Tradition arbeits- bzw. industriesoziologischer Arbeiten ein, die unter anderen mit der berühmten Studie Die Arbeitslosen von Marienthal(1933) von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel begründet wurde. Da dem biographischen Material viel Raum gegeben wird, erlaubt es einen tiefgehenden Einblick in die Veränderungen der Lebenswelten und die sozialen Umstände der ArbeiterInnen-Schicht ab dem Zweiten Weltkrieg. Das Buch hebt sich dadurch von anderen Arbeiten in diesem Feld ab. Und auch wenn die eine oder andere Kritik am neoliberalen Paradigma, die aus der Entwicklung der Fabrik abgeleitet wird, eher skizzenhaft verbleibt, eröffnet dieses Stück Industriegeschichte, das hier auf fundierte Art erzählt wird, einen neuen Blick auf die Tabakfabrik und auf die Stadt Linz selbst.


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