Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Sprung in die Stadt nennt sich ein jüngst erschienenes Buch, das helfen kann, unser Unwissen über Städte in Ost- und Südosteuropa zumindest ansatzweise zu beseitigen. Der inhaltlich sorgfältig recherchierte und optisch aufwändig gestaltete Band präsentiert sieben Städte: Chișinău, Sofia, Pristina, Sarajevo, Warschau, Zagreb und Ljubljana. Die Lektüre ist aber nicht nur wegen der unterschiedlichen Städte sondern auch wegen der verschiedenen Textformen höchst abwechslungsreich: Reportagen, Interviews, Essays, literarische Texte und Fotoarbeiten machen die LeserInnen mit den einzelnen Städten und ihren BewohnerInnen bekannt. Kleine Aspekte des Alltagslebens finden genau so Beachtung wie die „großen“ Themen, lokale Diskussionen wechseln sich mit Analysen transnationaler Probleme ab.

Wir erfahren von der Auswirkung, die die Ausstrahlung südamerikanischer Telenovelas in Moldau hat; ein Migrationsforscher der Universität Chișinău erklärt die Abfolge der Migrationswellen; die BewohnerInnen des Kosovo werden uns als (gemeinsam mit den BewohnerInnen Hongkongs) Weltmeister des Optimismus vorgestellt, die sich von der extrem hohen Arbeitslosigkeit nicht beunruhigen lassen. Die pompöse neoklassizistische Ausstattung des Parlaments in Pristina, die so gar nicht in den modern-funktionalistischen Bau aus den 1970er Jahren passt, ist ebenso Thema wie die Geschichte des Skanderbeg-Denkmals auf dem zentralen Platz in Pristina, das eine Eins-zu-Eins-Kopie jener Reiterstatue ist, das in der albanischen Stadt Kruja steht. Ein anderes Denkmal ist Anlass für ein Gespräch im Sarajevo-Teil des Buches und zwar jenes für Bruce Lee in Mostar. Die Statue vom „universellen“ Bruce Lee soll – so hoffen einige – der in einen katholischen und einen islamischen Teil gespaltenen Bevölkerung etwas anbieten, das alle akzeptieren können und weder als zu katholisch noch als zu islamisch interpretiert werden kann. Besonderes Augenmerk wird in diesem Teil auf die Fußballfans gelegt, an deren Schlachtgesängen zu erkennen ist, dass der Krieg nicht allzu lange vorbei ist.

In Warschau ist zwischen den internationalen Supermarkt- und Luxusartikel-Ketten und den provisorischen Marktständen auf den Hauptstraßen, sowie dem Jarmark Europa im Stadion Dziesie¸ciolecia, in dem es alles von der gefälschten Versace-Sonnenbrille aus Vietnam über die illegal kopierten CDs und DVDs aus China bis hin zum Wodka aus der Ukraine angeboten wird, kein Platz mehr für die kleinen Geschäfte. Gated communities boomen und die Pole, an denen sich alles orientiert, heißen Gott und Markt. In Zagreb sind fast alle nach Frauen benannten Straßen nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens umbenannt worden und in Ljubljana sind die 20.000 BewohnerInnen, die kurz nach der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens ihren Status als ständige EinwohnerInnen verloren haben, trotz höchstgerichtlichem Urteil noch immer nicht entschädigt worden. Die international ausgerichtete Kultur der 1980er Jahre wich in den 1990er Jahren einem religiös-nationalistischen Heimatstil und dieser scheint nun seinerseits von der „Kultur des Kapitals“ abgelöst zu werden.

Dieser Schnelldurchlauf kann natürlich nur ansatzweise wiedergegeben, was das Buch auf über 600 Seiten zu bieten hat. Im letzten Teil des Buches mit dem Titel Atlas wird historisches, geographisches und wirtschaftliches Wissen über all jene Staaten, in welchen die porträtierten Städte liegen, kompakt zusammen gefasst.


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