» Texte / Das Zürcher Labitzke Areal – eine Stadtutopie?

Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Die Nachnutzung von ehemaligen Industrie- und Gewerbeflächen durch kulturelle Initiativen gibt es europaweit und darüber hinaus in vielen Städten. Auch am Labitzke-Areal in Zürich haben sich nach der Schließung der Labitzke-Farben-Fabrik Clubs und Vereine angesiedelt, ebenso wie einige Gewerbebetriebe, später wurde auch Wohnraum geschaffen. Gekauft hat das Areal, nach dem Ende der industriellen Nutzung im Jahr 1990, ein stadtbekannter Immobilienhändler aus dem Zürcher Rotlichtmilieu. Sein Interesse bestand darin, die Flächen möglichst teuer zu vermieten, ohne sich um Instandhaltung zu kümmern oder zu investieren. Was auf den ersten Blick als für Mieter*innen nicht gerade attraktives Konzept erscheint und für die meisten wohl auch nicht gewesen wäre, erwies sich für andere gerade dadurch als vorteilhaft. Gemietet wurden die Räumlichkeiten schlussendlich in der Mehrheit von Privaten und Institutionen, die es aus unterschiedlichen Gründen am normalen Mietmarkt schwer haben: Clubs, die ständig mit Lärmproblemen zu kämpfen haben, (migran­tische) Vereine, die mit Rassismus konfrontiert sind und eine für Vermieter*innen unbeliebte Rechtsform haben, Künstler*innen, die Atelierraum brauchen, Menschen, die alternative Wohnformen ausprobieren wollen, Menschen, die informelle bzw. illegale Aktivitäten verfolgen.
       Die Autorin von Labitzke Farben – Archäologische Untersuchung einer Stadtutopie hat selbst ab 2009 einige Jahre in einer der WGs am Gelände gewohnt, was es ihr ermöglicht hat, zu vielen Mieter*innen und Bewohner*innen über lange Zeit engen Kontakt zu halten und mit ihnen Gespräche zu führen, die einen umfassenden Einblick in den Alltag und das Miteinander geben. »Im Speziellen beschäftige ich mich mit dem Areal als Experimentier-Erfahrungsraum, beispielsweise in Bezug auf die Formen des Zusammenlebens, städtische Entwicklungsprozesse und politischen Aktivismus.« Daran, ob es sich beim Labitzke-Areal tatsächlich um eine ›Stadtutopie‹ gehandelt hat, wie im Titel angeführt, gerät man als Lesender manchmal ein wenig ins Zweifeln. »Leben und leben lassen« lautete das Motto – trotz »sozialer Kontrolle«, die ebenfalls existierte. Grenzüberschreitungen wurden akzeptiert, wenn daraus folgte, dass eigene Überschreitungen ebenfalls möglich waren. Man musste offenbar zumindest zeitweise damit leben, dass Waffen gehandelt wurden und in den Krieg in den Kosovo gezogen wurde, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, dass man nicht ganz sicher sein konnte, was Frauen passierte, die nächstens von Männergruppen in Autos gedrängt wurden. Speziell die Begleiterscheinungen so mancher Klubs und des Partylebens wie Lärm und Verschmutzung machten manchen Mieter*innen zu schaffen. »Man konnte nicht erwarten, dass sie Rücksicht auf uns nehmen«, meint der Sprecher eines Moschee-Vereins, weil er glaubte, der Umstand, dass während des Ramadans viele Gläubige in die Moschee kommen, sonst auch nicht akzeptiert worden wäre. Zu leiden hatten auch manche Gewerbetriebe, die ganz regulär ihren Betrieb führten, dabei aber immer wieder mit Störungen konfrontiert waren. Trotzdem spürten und schätzten auch diejenigen, die nicht am Gelände waren, um sich ›auszuprobieren‹, die manches zu ertragen hatten und die auch nicht so einfach wegziehen konnten, wenn sie genug hatten, die besondere Atmosphäre des Areals.
       Wenn das »soziale und kreative Potenzial von ›Freiräumen‹ jenseits kommerzieller Verwertungslogiken oder Reglementierungen« und die »vielfältige Nachbar*innenschaft« hervorgehoben wird und von einem der »grössten Kultur- und Wohnexperimente der Stadt Zürich« die Rede ist, kann man trotzdem davon ausgehen, dass von diesem Setting nicht alle gleich profitiert haben. Gerade deswegen soll eine der schönsten Gesprächspassagen im Buch nicht unerwähnt bleiben. Sie handelt von Muhamed Hasicic, der als Jugendlicher regelmäßig die Moschee am Areal besucht hat. Er spricht rückblickend darüber, wie angetan er vom KulturGarten war. Es begeisterte ihn, mit wie wenig finanziellem Einsatz und umso mehr kreativem Potenzial und kollektiver Anstrengung es gelungen ist, mitten in dem Industriegebiet ein Stück Natur mit hoher Aufenthaltsqualität, etwas Schönes zu schaffen. In der Folge hat ihn diese Erfahrung angeregt, selbst eine Tischlerei einzurichten, um kreativ zu arbeiten und mit dieser Arbeit Initiativen unterstützen zu können.
       Eine der wichtigsten Nutzungen auf dem Areal passierte erst wenige Jahre vor dem endgültigen Aus. Es handelte sich dabei um den Autonomen Beauty Salon, eine Kulturbesetzung, die primär für Veranstaltungen genutzt wurde, deren Betreiber*innen aber auch in der Auseinandersetzung um den Erhalt des Areals sehr aktiv waren.
       Ein eigenes Kapitel ist dem Thema Hallenwohnen gewidmet. Vorstellen kann man sich darunter eine Art Loftwohnung, die nicht nur zum Wohnen und Arbeiten genutzt wird, sondern auch Veranstaltungen ermöglicht und grundsätzlich sehr offen ist. Möbel sind zumeist auf Rollen montiert, damit sie zur Seite geschoben werden können, private Flächen sind minimal. In so einer Halle zu wohnen, stellte sich als durchaus herausfordernd dar, für eine gewisse Zeit war es für viele Bewohner*innen jedoch sehr inspirierend. So inspirierend, dass versucht wurde, diese Art des Wohnens, die eigentlich aus der Nutzung von leeren Fabriken und Gewerberäumen entstanden ist, auch in den Neubau überführen zu können. Gelungen ist das im Zollhaus, dem zweiten Projekt der Zürcher Genossenschaft Kalkbreite.
       Neben den vielen Gesprächsausschnitten gibt es im Buch eine Reihe von Texten, die spezifische Inhalte in knapper Form zusammenfassen. Darin geht es beispielsweise um die Geschichte der Labitzke Farben, das Thema Zwischennutzung oder die Mobimo Holding. Dabei handelt es sich um das Immobilienunternehmen, das das Areal 2011 gekauft hat, um darauf Wohnungen zu errichten. Im August 2014 ging die Räumung begleitet von großen Protesten in Zürich (»Wem gehört Zürich?«) über die Bühne. Die allermeisten Mieter*innen hatten ihre Räumlichkeiten zu diesem Zeitpunkt schon verlassen.
       Im letzten Teil des Buches finden sich drei Beiträge von externen Autor*innen, in denen es um ein »postmigrantisches Recht auf Stadt« (Rohit Jain), um die Diskussion der Möglichkeiten einer »Zivilgesellschaft auf Augenhöhe« (Renée Tribble) und »Ansätze für einen solidarischen politischen Widerstand« (Anne Vogelpohl) geht. Einzelne Aspekte dieser Beiträge sind durchaus hilfreich, um die Labitzke-Jahre ein­zuordnen und darüber hinaus nachzudenken. Andere scheinen speziell für den Zürcher Kontext wichtig zu sein. Eine Frage, die sich angesichts der Tatsache, dass die Mieter*innen relativ hohe Mieten bezahlt haben, stellt, ist die nach der offen­bar nie ins Auge gefassten Möglichkeit, das Areal zu kaufen. Ob der langjährige Eigentümer, mit dem es im Buch leider kein Interview gibt, dazu bereit gewesen wäre, ist fraglich, da er auch in diesem Fall wohl ausschließlich am höchstmöglichen Profit interessiert gewesen wäre. Interessant wäre der Versuch allerdings tatsächlich gewesen, zeigen sich doch bei den neuen Unterschlupfen, die die Labitzke-Mieter*innen in Folge gefunden haben, dass viele von diesen wiederum nur befristet genutzt werden können.
       Neben dem Verdienst der Autorin, ein Modell wie das Labitzke-Areal so umfangreich beforscht und informativ dar­gestellt zu haben, muss unbedingt erwähnt werden, dass das Buch angefangen von der Lesbarkeit bis zum beigelegten Faltplan grafisch außerordentlich gut gelungen ist. Es macht Freude, es zu lesen.


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