Günter Hainzl


Der indischstämmige und seit den 1970er Jahren in London lebende Künstler Anish Kapoor ist Träger des renommierten Turner Prize, einer der Protagonisten der New British Sculpture und zählt zu den hervorragendsten Exponenten zeitgenössischer Kunst. Kapoor hat im Gegensatz zu Mitteleuropa in Großbritannien und den USA einen sehr hohen Bekanntheitsgrad, was der von Bettina M. Busse kuratierten Ausstellung von vier „raumgreifenden Arbeiten“ im Wiener Museum für Angewandte Kunst eine besondere Bedeutung verleiht – drei Objekte wurden zudem eigens für die Räumlichkeiten des MAK konzipiert.

Kapoors Werk nimmt seinen Ursprung in der Malerei, aber schon bald erschließt es sich durch Stülpung, Faltung, Collage und Aushöhlung die räumliche Dimension. Malerei wird zum Relief und schließlich zur Skulptur. Es lässt sich nicht eindeutig feststellen, in welchem medialen Zustand sich das Werk gerade befindet. Kapoors Malerei greift phänomenologisch in den Raum, hingegen sind seine Skulpturen räumliche Gemälde aus Pigment und Materialien unterschiedlichster Art. Bisweilen erlangen seine Skulpturen architektonische Präsenz, obwohl Kapoor sich immer als Künstler sieht, selbst wenn er sich mit einem interdisziplinären Team bei städtebaulichen Interventionen beteiligt.

Um Kapoors Schaffen zu verstehen, ist es hilfreich, zwei der Grundansätze der Arbeit getrennt voneinander zu studieren, im Wissen, dass diese Ansätze integrale Teile der Arbeit sind – „die Leere“ und „die Ewigkeit“. Bereits in den flächigen Gemälden besteht der Versuch, „Leere“ zu verbildlichen. Mit ineinander verschwindenden und sich überlagernden Farbflächen werden im Betrachter/der Betrachterin Empfindungen von Tiefe und Leere erzeugt. Leere ist in Kapoors Werk nicht Absenz von Materialität, sozusagen „Nichts“, sondern wird materiell formuliert; Leere bekommt Form, Leere ist Form. Da Leere räumliche und zeitliche Komponenten besitzt, modulieren sich die zweidimensionalen Flächen in den Raum, streben danach, in sich selbst schlüssig zu sein, und werden in Folge zum Objekt. Die Thematisierung der Leere in Kapoors Werk erweckt die Assoziation zu Heideggers Gleichnis des Kruges: Der Töpfer formt nicht den Krug, sondern er formt die Leere darin, das Wesen des Kruges ist seine innewohnende Leere. Wobei nicht nur der Töpfer diese Leere erkennt und ihr Form gibt, sondern auch der Benutzer diese Leere erkennen muss, um den Krug als jenes Ding zu erfahren und zu nutzen. So ist es auch bei den Skulpturen Kapoors. Nicht nur durch den Künstler verbildlicht sich die Leere, sondern auch in der Wahrnehmung der Betrachterin. Die Objekte sind nicht klar definierte Dinge per se, sondern erlangen erst durch den Betrachter Immaterialität, Poesie und Spiritualität.

Als Grundlage für Kapoors Werk dienen meist einfache geometrische Grundformen. Diese Elemente werden ineinander überlagert und erschaffen somit einen Zwischenraum. Die Prozesse Subtraktion und Addition sind die Protagonistinnen in der Transformation der Objekte und in der Formation der „Leere“; eine Kugel wird aus einem Würfel extrahiert, wobei die Kugel nicht selbst materiell wird, sondern als Negativform im Würfel Verbildlichung findet, wie zum Beispiel bei dem Objekt Shadow Corner. Bei anderen Objekten, wie Past, Present, Future und Push-Pull II wird Masse von einer imaginären Form abgetragen, um schlussendlich eine andere Form zu erzeugen. Die Installation Shooting into the Corner bedient sich des Prozesses der Addition, indem ein leerer Raum immer mehr befüllt wird. Da die Aktivitäten Subtraktion – Entleerung – und Addition – Befüllung – unausweichliche Bestandteile der Objekte sind, so ist auch in Folge der Faktor Zeit ein unausweichlicher. Wobei sich auch hier keine eindeutige Periode definieren lässt, sondern Zeit sich in Ewigkeit ausdehnt. Somit erfahren die Arbeiten eine ganz besondere Präsenz und Materialität, als ob sie schon immer da waren oder sich gerade selbst erschaffen.

Im übertragenem Sinne haben die Arbeiten eine Parallele zur Architektur und besonders zum Städtebau. Städte sind Ansammlungen von Leere, die durch die bebaute Masse modelliert wird. Städte sind ständig im Wachstum und zur gleichen Zeit auch immer im Verfall – Addition und Subtraktion wechseln sich ab. Geschaffen werden sie von jedem und jeder, aber keine Einzelperson ist zur Verantwortung zu ziehen; sie entziehen sich zeitlich und räumlich unserer Wahrnehmung – nur einzelne Teile sind fassbar, bis diese sich dann um eine Ecke verflüchtigen.

Das Hauptwerk der Ausstellung ist Shooting into the Corner. Im großen Zentralraum, welcher vor einem Jahr noch von unzähligen Architekturmodellen von Coop Himmelb(l)au übersättigt war, befindet sich weiße Leere. Beziehungsweise befand sich weiße Leere, denn seit Beginn der Ausstellung werden mit einer eigens konzipierten Kanone in regelmäßigen Intervallen Wachsgeschosse – das blutrot, etwas fleischlich anmutende Wachs ist auch Grundmaterial der anderen Arbeiten in der Ausstellung – auf eine gegenüberliegende Ecke gefeuert. „Die Kugelform der Wachsgeschosse wird durch den Aufprall auf die Wand verändert; ein Teil bleibt plattgedrückt an der Wand kleben, der größere Teil wird aber mit der Zeit abrutschen und einen Wachsberg am Boden bilden, der Schicht um Schicht größer wird. Laute Aggression einerseits und stilles Wachstum andererseits verleihen dem Werk Spannung, Sinnlichkeit und Kraft; dem intensiven physischen Erlebnis werden transzendale Erfahrungen wie Veränderung, Vergänglichkeit und Neuanfang hinzugefügt.“ (B. M. Busse: Aggression und Schönheit) In diesem Sinne: Feuer frei!

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Ausstellung
Anish Kapoor Shooting into the Corner
MAK, Stubenring 5, 1010 Wien
20. Jänner bis 19. April 2009


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