Susanne Karr


In dem bereits 1995 auf englisch und nun auch auf deutsch erschienenen Buch Flaneure, Spieler und Touristen unterzieht der Soziologe Zygmunt Bauman verschiedenartige Lebensformen in den postmodernen Gesellschaften einer detailscharfen und mitunter schonungslosen Analyse. Elegant formuliert und von erschreckender Klarheit, erweist sich die Lektüre als äußerst stringenter, klarsichtiger Beitrag zum intellektuellen Diskurs über die Postmoderne Ära. In sechs thematisch aufeinander bezogenen Essays setzt Bauman zeitdiagnostische Markierungen und beschreibt idealtypische ZeitgenossInnen.

Dafür baut er seine schon in früheren Texten skizzierte Hauptthese aus, nach der sich das postmoderne Subjekt von den ethischen Zwängen der Moderne emanzipiert hat und nun in schockierender Freiheit, ohne fixe Anhaltspunkte religiöser oder sonstiger autoritärer Natur, sein Leben gestaltet. Genau hier sieht Bauman eine Ära neu entdeckter Verantwortlichkeit: Nach den sicher abgesteckten Rahmenbedingungen der autoritär geprägten, religiösen Zeit der Vormoderne, die persönliche Entscheidungen durch strenge Regelwerke auf ein Minimum beschränkt, löste sich die Abhängigkeit von metaphysischen Gegebenheiten im Zeitalter der Moderne, als die Herrschaft der Vernunft eingeläutet wurde und sich alle Problematiken durch Anwendung rationaler Prinzipien aufzulösen versprachen.

Nicht nur die Lösung lebensweltlicher Probleme, die durch „den ständigen Fortschritt“ vorangetrieben wurde, schienen durch die richtige Anwendung der Vernunft realisierbar: Auch die Möglichkeiten, Befriedung durch Befriedigung aller Bedürfnisse bereits im aktuellen Leben, ohne Verweis auf ein letztlich unsicheres Jenseits, zu erlangen, wohnten dem modernen Konzept inne. Es baute auf rationale Regeln, deren Befolgung zwangsläufig zu einem guten, weil vernünftigen Ergebnis führen sollte. Eigentlich verlangte dieses Konzept eine Welt frei von moralischen Ambivalenzen: Dessen ethisches Korsett beinhaltete zwar die Wahlmöglichkeit von guten und schlechten Entscheidungen, schloss aber die Wahl der schlechten, weil unvernünftigen Möglichkeit gleichzeitig als die moralisch verwerfliche aus. Letztlich war eine Konformität der Gesellschaft, in der man will, was man soll, das zentrale Anliegen von Sozialisation. Während im religiös dominierten Zeitalter „schlechte“ Entscheidungen durch Reue und Vergebung ausgleichbar waren, fiel diese Korrigierbarkeit in der Moderne auf das handelnde Subjekt zurück. Und in der postmodernen Ära spitzt sich die Anforderung an das Subjekt weiter zu – in der Erfahrung, dass auch das Vernunftkonzept immer schon durch Konvention aufrechterhalten wurde: dass es quasi keinen Grund für die Anwendung genau dieses Konzeptes und nicht eines beliebigen anderen gibt. Dass das Chaos des Lebendigen sich der Eindeutigkeit widersetzt. Und dass jegliche Sinnstiftung eine produzierte ist, der sich das wirkliche Leben entzieht. Die Aneinanderreihung von Episoden, die nicht durch Kausalität verknüpft sind, bildet in der Gesamtheit den so genannten Lebenslauf, der erst durch den Kunstgriff der biographischen Erzähltechnik sinnvolle Zusammenhänge erlangt. „Dinge geschehen, statt einander zu folgen und zu binden.“

Wenn eine Entscheidung getroffen wird – und eine Entscheidung muss immer getroffen werden, das ist der moralische Moment, der dem Leben immanent ist und der niemals ausgeblendet oder abgeworfen werden kann, unabhängig von vermeintlich moralischen Wertungen wie gut und böse –, sagt das nichts darüber aus, welche Entwicklungen sich daran reihen. Will heißen: Eine in ethischen Maßstäben gedachte „gute“, weil auf die Umwelt bezogene, rücksichtsvolle Entscheidung zieht nicht zwangsläufig „gute“ Konsequenzen nach sich. So hat der angeblich aus sozialisationstechnischen Forderungen erwachsene Drill häufig genau das Gegenteil von dem erreicht, was beabsichtigt war: Die zu einwandfreiem Benehmen erzogenen Soldaten richteten jenseits des für sie genau definierten Handlungsspielraumes immer wieder enthemmte Massaker an (und tun es noch).

Solche Entgleisungen – oder, wie Bauman mit Verweis auf Lyotard in Erinnerung ruft, logischen Konsequenzen der fortschreitenden Vernunft – machten das Ideal der Moderne suspekt und inakzeptabel. Die Anwendung der Vernunft und des Fortschritts zeitigte durchaus unvernünftige und reaktionäre Ergebnisse. Dieses Ideal hatte ausgedient. Abgrund und Chaos zeigen sich nun unverhüllt, und erstmals nicht durch ein einheitliches Sinnkonstrukt geschönt. Die logische Kausalanforderung an Lebenszusammenhänge läuft ins Leere. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass das postmoderne Subjekt sein Leben als episodenhaft und konsequenzenlos lebt und erlebt. Sinnstiftung wird als subjektive Aufgabe wahrgenommen. Man ist gleichzeitig Regisseur und Akteur: Der eigene Blick auf die Biographie ist der des Spielers auf sein Spiel. Wurde in der Moderne Identität konstruiert, so wird in der Postmoderne jegliche Festlegung vermieden. Ohnehin, so notiert Bauman diesbezüglich nicht ohne Häme: „Man denkt an Identität, wann immer man nicht sicher ist, wohin man gehört.“

Das moderne Subjekt ist sozusagen Konsument des eigenen Lebens geworden: Wie der Flaneur, der sich beim Spaziergang aus den Schaufenstern aussucht, was ihm gefällt, wählt man Versatzstücke aus Lebensmöglichkeiten wie Beziehungen und Karrieren. Sind sie nicht retournierbar, so doch umtauschbar. Das Gegenüber wird als ästheisches Konsumprodukt verstanden, das dem eigenen Lustprinzip zu dienen hat. Man bereist andere Lebenswelten, ja sogar die anderen wie ein Tourist, der im Vorhinein bereits die Rückreise gebucht hat. Bindungen können so sehr locker und unbestimmt gehalten werden. Ähnlich verhält es sich mit den Anforderungen an ein Job-Profil: In Zeiten von verlangter hoher Flexibilität und Mobilität muss die eigene (Um-)Gestaltbarkeit sehr hoch sein. Dauerhaftigkeit wird hier nicht angestrebt.

Wo aber kommt dann die Verantwortlichkeit ins Spiel? In der Erkenntnis, dass es keine a priori richtungsweisenden Stützen gibt: Die Entscheidung, so oder so zu handeln, ist eine durch und durch eigene und eigenständige. Das bedeutet einen enormen Zuwachs an Verantwortung: Man tut etwas so und nicht anders, weil man sich dafür entschieden hat. Hannah Arendts „Tyrannei der Möglichkeiten“ hält das Subjekt auf Trab. Genau hier sieht Bauman auch die Chance: in einer Annahme dieser Herausforderung. Sie ist für ihn wahr-scheinlicher als das Versinken in der Beliebigkeit. Es hat schon etwas beinahe Heroisches, wenn er schreibt: „Jetzt endlich richten wir uns auf und stellen uns dem Chaos.“


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