Iris Meder


Man muss es leider sagen: Helmut Weihsmanns Buch ist nach wie vor die einzige übersichtliche, erschwingliche, kompakte und – jetzt wieder – lieferbare Darstellung zur architektonischen Tätigkeit des Roten Wien, das ja seit geraumer Zeit auch als touristischer Anziehungspunkt propagiert wird. Das Buch teilt sich in eine solide Überblicksdarstellung zur Sozialgeschichte und Typologie des Wiener Gemeindebaus der Ersten Republik mitsamt historischen Wurzeln und exemplarischen Vergleichen mit anderen Schauplätzen (etwa Prag) und einen Katalogteil in Form von Spaziergängen. Während der erste Teil unverändert aus der Erstauflage von 1985 übernommen ist, wurde der zweite einer gründlichen Überarbeitung und Erweiterung unterzogen. Er hat jetzt den Anspruch, sämtliche Gemeindebauten des Roten Wien aufzulisten. Dies geschieht nicht mehr in Form von geografisch definierten Routen, sondern nach Bezirken geordnet und um heute außerhalb des Wiener Stadtgebiets liegende Objekte erweitert.
Erfreulicherweise wurden die handgezeichneten, teilweise völlig unklaren und fehlerhaften Pläne durch bei weitem übersichtlichere ersetzt; auch ergab eine erste Belastungsprobe, dass die Klebebindung offenbar verbessert wurde und somit nicht mehr mit einem Zerfallen des Buchs in Einzelblätter nach wenigen Tagen zu rechnen ist.
Weihsmanns Vorwort, in dem der Katalog als »nicht fehlerfrei« angekündigt wird, muss man, bei aller Anerkennung der persönlichen Forschungsleistung, leider aus vollem Herzen zustimmen. Für Hans Glas' 1928-29 entstandenen Gemeindebau am Handelskai – Baujahr und Architekt sind auf einer Tafel im Foyer zu lesen – wird »1938/39, Hans Glaser« angegeben (»möglicherweise ein Pseudonym«– nein, nur ein falsch gelesener Name). Josef Franks Bauteil des Winarskyhofs heißt auf S. 424 »Josef-Julius-Gerl-Hof« und wird einem Heinrich Ried zugeschrieben. Ebenso bei den Vergleichsbeispielen aus dem privaten Wohnhausbau (mit nicht nachvollziehbaren Auswahlkriterien, auch was die ohne Fotos wenig sinnvolle Aufnahme nicht mehr existenter Bauten betrifft): Da wird Fischel/Sillers Haus Fürth im Plan an falscher Stelle eingezeichnet, weil die genaue Adresse offenbar nicht bekannt war. S. C. Drachs Haus Salpeter in der Leopold-Steiner-Gasse wird zur »Villa Kaasgraben«, Walter Loos' Haus Lenz zum »Haus W.« und sein Haus Brandl zum »Eigenheim«, Arnold und Gerhard Karplus' Haus Krasny kurzerhand zum »Wohnhaus des Architekten« erklärt, Franks 1936 entstandenes Haus Bunzl zur »letzten Arbeit in Wien vor seiner Emigration« (die bereits Ende 1933 erfolgte). Ebenso wie Frank absurderweise der »überheblichen Fortschrittshysterie« (S. 143) wird Walter Sobotka, einer der zentralen Architekten des Frank-Kreises, der »bastardhaften, verbilligten Umsetzung« der Prinzipien von Loos und der »mitunter oberflächlichen und widerspruchsvollen Aneignung einer modisch-radikalen Wiener Moderne« geziehen. Die Wiener Schule »modisch-radikal« und »fortschrittshysterisch«? Kurt Singers zeitgeistig-kubistisches Haus Reiner, das der Wiener Schule als Negativbeispiel diente, steht dagegen laut Weihsmann »in bester Tradition der Wiener Moderne«.
Im Anhang fallen die Architekten-Kurzbiografien der ersten Auflage weg, aber auch das Kurzverzeichnis bietet zahlreiche Fehlerquellen. Fritz Grüll wird zu »Franz Grill«, Otto Pollak-Hellwig und Otto Rudolf Hellwig zu »Otto Rudolf Pollak-Hellwig« synthetisiert, der Architekt Erich Ziffer mit dem Ingenieur Erwin Ziffer ebenso durcheinandergeworfen wie Adolf Paar mit seinem Bruder Hans. Der Strnad- und Loos-Schüler Karl Hofmann wurde zu einem 1957 in Graz verstorbenen Karl Hoffmann umfunktioniert – der echte starb in der australischen Emigration. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.
Alles in allem ist das Buch aber trotz seiner Mängel ein durchaus brauchbares Kompendium für Interessierte. Als Faustregel beim Gebrauch sei jedoch dringend empfohlen, primär der eigenen Anschauung zu vertrauen.

Helmut Weihsmann
Das Rote Wien Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 119-1934
2., überarbeitete Ausgabe
Wien 2002 (Promedia)
496 S., EUR 41, 35


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