Johannes Bretschneider

Johannes Bretschneider forscht und lehrt am Forschungsbereich Städtebau der TU Wien.


        In früheren Zeiten gehörte die große Italienreise zum guten Ton unter europäischen Privilegierten. Selbst in Zeiten des Massentourismus in einer hochvernetzten Welt gilt eine solche Grand Tour noch immer als Referenzrahmen für Architektur- und Kulturschaffende.
        Wie sähe so eine zeitgenössische Reise durch Italien aus? Was lernen wir aus der architektonischen Auseinandersetzung mit dem global geprägten Territorium Italiens? Dies fragen sich die Herausgeber:innen des unlängst bei Park Books erschienenen Buchs The Last Grand Tour, Antonietta Putzu und Michael Obrist. Darin wandeln sie zwar entlang der klassischen Stationen, die schon Goethe besuchte, ergänzen die Route aber durch die Erkundung von Nichtorten und Terrain Vagues abseits malerischer Idylle. Die Ästhetik postindustrieller und postagrikultureller Landschaften trifft beispielsweise auf die räumlichen Überreste überholter Lebensmodelle der Wachstumsgesellschaft in der entsiedelten Suburbia Norditaliens. An anderer Stelle tauchen Konfliktlinien und Bruchkanten städtischen Zusammenlebens in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft auf. Und auch ein Hauch Nostalgie fehlt nicht, wenn das Nachtleben in Diskotheken von den 1960er Jahren bis heute nachgezeichnet wird.
        Der Titel des Buchs ist Programm: auf mehr als 500 Seiten beleuchten die Autor:innen in opulenter und herausfordernder Themenbreite »Contemporary phenomena and strategies of living in Italy«, wie es im Untertitel heißt. Was genau damit gemeint ist, bleibt weitestgehend offen und somit den Leser:innen zur Interpretation überlassen. Das Angebot ist reichlich und entspricht eher einem All-You-Can-Eat-Buffet als dem ausgewählten Gourmetmenü: allgemein bekannte und breit diskutierte Aspekte (Overtourism, Betongold) zählen ebenso dazu wie weniger populäre Diskurse zu Formen der kollektiven Aneignung von Leerstand und des zivilgesellschaftlichen Engagements und Widerstands. Als einen Wissenskörper bezeichnen die Herausgeber:innen folgerichtig diese umfangreiche Sammlung aus Essays, Dialogen, Fotografien und Entwürfen, die sich über mehrere Jahre im Rahmen von Forschung und Lehre am Forschungsbereich Wohnbau der TU Wien angesammelt haben. Gegliedert ist dieser Körper geografisch. Behandelt werden die großen Metropolen Mailand, Rom und Neapel und auch um Venedig macht die Grand Tour keinen Bogen. Exemplarisch werden Regionen in den Alpen, einer typischen suburbanen Peripherie, im entsiedelten Inland, an den Küsten und die Inseln besucht. Durchblättern wir das Buch chronologisch, so folgen wir Goethes Reise von Nord nach Süd, die auf Sizilien endete. In dieses geografische Grundmuster sind vier angelehnte Diskursblöcke in Form von Dialogen und Essays eingeschoben.
        Darüber hinaus ist das grafisch sehr ansprechend aufbereitete Buch auch ein zeitgeschichtliches Zeugnis der Pandemie und erinnert an das beklemmende Gefühl von Isolation und Einsamkeit in einer plötzlich geschrumpften Welt: die Poesie der Abwesenheit, Verlassenheit und Leere durchzieht den Band. Zu den antiken Ruinen haben sich neue gesellt. Die Bildstrecken Carolina Sartoris, Paul Sebestas oder Carlo Morettis zeigen menschenleere Architekturen und öde Investoren-Vorstädte. Auch die Diskussionen mit Expert:innen, die wohl oft genug im digitalen Raum ohne Anreise stattfanden, sind stark von Unsicherheit und der Frage nach den Auswirkungen der Pandemie auf Architektur und Urbanismus geprägt. Von der in diesen Dialogen immer wieder anklingenden Hoffnung auf einen grundlegenden Systemwechsel scheint heute wenig übriggeblieben.
        Das Buch versammelt zahlreiche Reiseführer:innen aus unterschiedlichen Disziplinen und Kontexten: Architektur, Stadtplanung, Film, Kunst und Aktivismus. Bemerkenswert ist, dass neben Positionen von bekannten Größen wie Stefano Boeri auch Positionen und Visionen einer jungen Generation von Studierenden der Architektur Raum gegeben wird.
        Durch die große Anzahl der Beitragenden entsteht ein vielfältiges Panorama, das die Komplexität des Verhältnisses von Nation und globalem Territorium im 21. Jahrhundert unterstreicht, aber in dieser Form auch etwas überfordert. --Angesichts der Masse an Antworten wäre eine etwas stärkere Positionierung der Herausgeber:innen an einigen Stellen spannend gewesen. Warum in eine italienische Peripherie reisen, die woanders eben fast genauso aussieht? Das zwischen Poetik und Positionierung schwankende Buch macht es den Leser:innen leicht, umherzuschweifen, für vertiefende Betrachtung stehenzubleiben, sich dann aber eben auch umzudrehen und weiterzugehen, weil man eben nur auf der Durchreise ist und es noch so viel anderes zu entdecken gibt. Die Sache der Menschen vor Ort geht einen dann schnell nichts mehr an und verschwindet im Rückspiegel. Dabei ist das Thema der Migration, dem im Buch viel Raum eingeräumt wird, für eine Durchreise zu wichtig. Um der dem Begriff der großen Reise anhaftenden romantischen Gemütlichkeit und Ungebundenheit entgegenzuwirken, hätte womöglich schon die einfache Perspektivumkehr einer Reise aus dem (globalen) Süden in Richtung Norden im Aufbau des Buchs genügt.


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