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Strategien partizipartiver Architektut und räumlicher AneignungClarence Schmidt hat sein Wohnhaus im Hügelland bei Woodstock selbst gebaut. Erst eine einfache Holzhütte, die der gelernte Maurer ab 1948 nach und nach erweiterte. Schmidt verbaute dabei ausschließlich gebrauchte und gefundene Baumaterialien – alte Fenster, Türen, Latten, Bohlen, Teerpappe – über die Jahre zu einer labyrinthartigen siebenstöckigen Stufenpyramide mit schließlich 35 Zimmern. Sein intensiv bemaltes und mit Dekorationselementen bestücktes House of Mirrors war im Inneren fast vollständig mit reflektierenden Materialien wie Alufolie, Spiegeln und Christbaumschmuck ausgekleidet. 1968 wurde es durch einen Brand komplett zerstört. Über Ausstellungen und Publikationen traten Schmidts Bauwerk und andere Formen der Aneignung von Raum aus Not oder Muße in das Blickfeld der professionellen PlanerInnen.
Clarence Schmidt hat sein Wohnhaus im Hügelland bei Woodstock selbst gebaut. Erst eine einfache Holzhütte, die der gelernte Maurer ab 1948 nach und nach erweiterte. Schmidt verbaute dabei ausschließlich gebrauchte und gefundene Baumaterialien – alte Fenster, Türen, Latten, Bohlen, Teerpappe – über die Jahre zu einer labyrinthartigen siebenstöckigen Stufenpyramide mit schließlich 35 Zimmern. Sein intensiv bemaltes und mit Dekorationselementen bestücktes House of Mirrors war im Inneren fast vollständig mit reflektierenden Materialien wie Alufolie, Spiegeln und Christbaumschmuck ausgekleidet. 1968 wurde es durch einen Brand komplett zerstört. Über Ausstellungen und Publikationen traten Schmidts Bauwerk und andere Formen der Aneignung von Raum aus Not oder Muße in das Blickfeld der professionellen PlanerInnen.
1946 besetzten in England 40.000 Familien über tausend vom Militär geräumte Camps; bald darauf legalisierte die zuständige Gesundheitsbehörde die Ansiedlungen. Der Soziologe Philippe Boudon veröffentlichte 1966 eine Untersuchung über die durch BewohnerInnen in Farbe, Form und Raumprogramm völlig veränderte Siedlung Pessac, die Le Corbusier 1926 für einen französischen Fabrikanten geplant hatte. Seit den 1960er Jahren untersuchte der Architekt John F. C. Turner#3# in Peru illegal errichtete Ansiedlungen und beschrieb die Überlegenheit von individuellen und örtlichen Ressourcen gegenüber einem bürokratisch zentral verwalteten System der Wohnungswirtschaft.
Die Auseinandersetzung mit ungeplanter Raumproduktion spielte in den internationalen Diskursen der Nachkriegszeit um eine Erneuerung oder Ablösung der Moderne eine bedeutende Rolle. Verbunden mit einer zunehmenden Unsicherheit über die Funktion von Gestaltung und Unzufriedenheit mit den Paradigmen der bauwirtschaftlich orientierten Nachkriegsmoderne, forderte dies ArchitektInnen zur Suche nach neuen Konzepten auf. So begaben sie sich auf unterschiedliche Wege hin zu den NutzerInnen ihrer Produkte. Sie forderten, motivierten, organisierten, billigten und entwarfen Beteiligungen der vom Bauen Betroffenen: der Wohnenden.
In dieser Hinsicht lässt sich eine Architekturgeschichte der Mitbestimmung als Reaktion auf den tatsächlichen Druck der Aneignung von Raum verstehen. Partizipation wird als Ansatz erprobt, neue Bezüge zu einer lebendigen Welt und deren Alltäglichkeit zu eröffnen. Dabei sind die Techniken der Partizipation immer von gesellschaftlichen Machtverhältnissen durchzogen. So taucht das Modell der Einbeziehung der BewohnerInnen in die Architektur genau zu der Zeit auf, als die Regulation fordistischer Arbeitsteilung und Lebensweise an ihre Grenzen gerät und sich ein neues flexibles Regime der Arbeit und des Konsums abzeichnet, das die ArbeitnehmerInnen in neue dynamischere Hierarchien integriert.
Architektur ist in dieser Perspektive primär eine Technik der Vermittlung zwischen Herrschaftswissen und Alltagspraktiken. Architekturen sind sowohl Bezugspunkte für marginale und unterdrückte Aneignungsformen als auch für hegemoniale Entwürfe von Gesellschaft. Dieser Gegensatz von Affirmation und Widerständigkeit begründet die transformatorische Eigenschaft von Architektur. Die Produktion von Raum modifiziert vorgegebene Interessen, indem sie diese anschaulich und wirkmächtig macht. In der baulichen Umsetzung ändern sich die Bedeutungen und Effekte von Interessen, da Architektur sich mit Aneignungsdruck und Widerständigkeiten auseinandersetzt, darauf reagiert oder sie integriert. Die Verfahren der Partizipation greifen diese Verhandlungsfunktion von Architektur aktiv auf.
Baugeschichte
Das Verhältnis von westlicher moderner Architektur mit ihrem universellen emanzipatorischen Anspruch zu der tatsächlichen Vielseitigkeit von Lebenspraktiken war von Beginn an kompliziert. Zwischen dem Versuch, die beste Lösung für das Wohnen der Massen durch Standardisierung umzusetzen, und dem kulturellen Versprechen einer uneingeschränkten Entfaltung des Individuums lag ein grundlegender Widerspruch. Dieser wurde durch die gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Umstrukturierungen nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute weiter verschärft.
Bereits die »Heroen« der klassischen Moderne setzten sich mit den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Menschen auseinander und versuchten »Lösungen« dafür zu erarbeiten. Der am stärksten verbreitete Ansatz – die Normierung der Räume und damit auch der Nutzungen – war nur ein Konzept von mehreren. Die Wohnung für das Existenzminimum beispielsweise und die Frankfurter Küche stehen für diese Tendenz, die sich dann auch durchsetzte und, auf einen bauwirtschaftlichen Funktionalismus verengt, in der Nachkriegszeit harsche Kritik erfahren sollte. Die so genannte funktionalistische Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts war jedoch nicht als anti-ornamentale Bewegung, wie es der International Style später nahe legte, ausgerufen worden. Ihr Anspruch war eine allgemeine Leistungserfüllung im Wirkungszusammenhang mit dem menschlichen Leben. Durch diesen engen Bezug auf soziale Lebenswirklichkeit war selten eine Gestaltungstheorie funktionalistischer als die des partizipatorischen Bauens.
In der Nachkriegszeit bis tief in die 1980er Jahre hinein entwickelten sich unterschiedliche Ansätze partizipativer Architekturkonzepte. Ein verbreiteter Ansatz war durch den Blick auf den Alltag, das Regionale und das Selbstorganisierte gekennzeichnet – die so genannte vernakuläre Architektur. Die zweite Denkrichtung zielte auf die Flexibilisierung des Gebauten. Der dritte Ansatz arbeitete an Konzeptionen offener, nicht durchgeplanter Räume. All diese Techniken der Partizipation, die in den Projekten der 1970er Jahre aufgegriffen und weiterbearbeitet wurden, hatten ihre Anfänge in der frühen Moderne. Diese unterschiedlichen Strategien, den Bezug zur Dynamik und Komplexität von Wirklichkeit, Leben und Alltag herzustellen, traten in der Regel kombiniert auf.
Alltäglich, regional, selbst organisiert
Der Blick zurück auf historische Bauformen, in entfernte Regionen, denen eine unvermitteltere, ursprünglichere Lebens- und Wohnweise zugeschrieben wurde, oder auch auf die alltäglich vorgefundene Konsumwelt des Westens sollte Erkenntnisse über das Wohnen und seine selbstorganisierten Formen liefern. Die ArchitektInnen der vernakulären Richtung gingen davon aus, dass hier – und nicht in der Geschichte der akademischen oder technischen Entwicklung der Architektur als spezialisierter Disziplin – der Schlüssel zu einem Bauen liegt, das dem Leben und Wünschen der Menschen gerecht werden kann. Der evolutionäre Charakter historisch gewachsener Bauformen, das selbstorganisierte, den Lebensumständen entsprechende Bauen sowie die massenhafte tägliche praktische Überprüfung der Bauformen begründeten dieses Verständnis. Es wurde versucht, einen unverstellten Blick auf die Funktion des Wohnens, der Bedürfniserfüllung für das Leben, zu erhalten und auf dieser Basis das Selbstverständnis der PlanerInnen zu hinterfragen.
Auf den CIAM-Kongressen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Umkreis des Team 10 intensiver als in den exotistischen Verweisen zuvor auf die Siedlungen und Gebäude der »Drittwelt« geachtet. Georges Candilis und Shadrach Woods erstellten in Marokko 1953 Wohnbauten, die regionale Hoftypen im Geschoßwohnungsbau umsetzten. Alison und Peter Smithson setzten sich zeitgleich mit der Alltagskultur in England auseinander. In ihrem Urban Reidentification Grid für CIAM 9, 1953, erläuterten sie mit Nigel Hendersons Fotos eines Straßenfests und der Benutzung der Stadt durch Kinder im Londoner ArbeiterInnen- und MigrantInnenbezirk Bethnal Green ihr Konzept der Straße als Erweiterung der Wohnung. Aldo van Eyck stellt in der holländischen Zeitschrift Forum Untersuchungen zu afrikanischen und südamerikanischen Bauformen vor. Eine Popularisierung dieser Perspektiven erreichte die im New Yorker Museum of Modern Art 1963 von Bernard Rudofsky organisierte Ausstellung Architecture Without Architects. Sie zeigte Aufnahmen von Siedlungen und Gebäuden, die weltweit ohne Zutun von professionellen PlanerInnen entstanden sind.
Flexible Systeme
Die bekannteste Strategie, mit dem Problem der Unvorhersehbarkeit von Nutzungen umzugehen, war die Flexibilisierung von Räumen bzw. die Mobilisierung von Raumelementen. Sie war eine Erweiterung des funktionalistischen Ansatzes der Problemlösung: Indem bestimmte Parameter der Planung technisch flexibilisiert wurden, konnten die erkannten unterschiedlichen Raumanforderungen integriert werden. Der Raum wurde zwar weiterhin von den PlanerInnen organisiert, bestimmte Veränderungsmöglichkeiten waren aber vorstrukturiert.
1922 entwickelte Walter Gropius ein System aus typisierten Bauteilen, mit denen verschiedene auf unterschiedliche BewohnerInnenstrukturen und Wohnanforderungen reagierende Baukörper zusammengestellt werden konnten. Mit seinem Baukasten im Großen ließen sich Einfamilienhäuser als planerische Kombination von Einzelkörpern herstellen. Gerrit Rietvelds 1924 erbautes Haus Schroeder berücksichtigte Veränderungen der Nutzung des Gebäudes – einerseits im Verlauf von Tag und Nacht, im Verlauf des Jahres oder Lebens der NutzerInnen und andererseits verschieden für jedes Familienmitglied. Rietveld installierte ein System aus Schiebe- und Faltwänden sowie Einbaumöbeln, die die Trennung und den Zusammenschluss unterschiedlicher Funktionsräume ermöglichten.
Ein weiterer Ansatz wurde von Martin Wagner mit seinem 1931 vom Berliner Magistrat ausgeschriebenen Wettbewerb Das wachsende Haus eingefordert. Die Arbeitsgruppe, die unter anderen aus Walter Gropius, Bruno und Max Taut, Hans Scharoun, Hugo Häring, Paul Mebes, Erich Mendelsohn, Ludwig Hilberseimer, Hans Poelzig und Egon Eiermann bestand, vertrat ein Bauen »auf Stottern«. Ein billiges Kernhaus sollte die Grundbedürfnisse abdecken und je nach finanziellen Möglichkeiten in von Anfang an mitgeplanten Schritten erweitert und ausgebaut werden. Das griffigste Motiv für die Idee der Flexibilisierung von Wohnbauten schuf jedoch Le Corbusier mit einem Photo, das eine Hand zeigt, die eine Wohnung in eine Gitterstruktur steckt.#13#. Diese visuelle Interpretation der Unité d’Habitation, die 1947 bis 1952 in Marseille erbaut wurde, korrelierte mit dem Begriff der Wohnzelle, der privaten Living Unit, die in eine gemeinschaftliche Struktur unabhängig eingebracht ist. In Japan entwickelte beispielsweise ab 1958 die ArchitektInnengruppe der Metabolisten unterschiedliche Projekte mit austauschbaren industriell vorgefertigten Räumen und Raumteilen, die schließlich auf der EXPO 1970 in Osaka als Prototypen realisiert wurden. Ein anderes prominentes Beispiel sind die Plug-In-Cities von Archigram und andere so genannte Megastrukturen wie Richard Dietrichs Metastadt, in denen der private Lebensbereich nur bedingt vorgeplant war und meistens aus vorgefertigten Elementen oder auch im Selbstbau erstellt werden sollte. Die vom Bundesbauministerium der BRD in den frühen 1970ern ausgeschriebenen Wettbewerbe Flexible Wohngrundrisse, Elementa 72 und Integra griffen dieses Konzept von staatlicher Seite aus auf.
Offene Räume
Ludwig Mies van der Rohe unterließ es in seinem bekannten viergeschossigen Mietshaus für die Werkbundsiedlung Am Weißenhof in Stuttgart 1927, die Grundrisse der Wohnungen zu planen. Die damals neuartige Stahlskelettbauweise ermöglichte die Trennung von Tragstruktur und raumbegrenzenden Elementen, so dass nur Treppenhäuser, Küchen und Bäder festgelegt waren. Dieser Ansatz ging davon aus, dass bestimmte Bereiche nicht von ExpertInnen geplant werden können, sondern dass diese offenen Räume effektiver und funktionaler von den BewohnerInnen oder direkt mit diesen kommunizierenden Personen gestaltet werden sollen. Die Idee des offenen Grundrisses, die bei Mies und seinen KollegInnen ansonsten nur im luxuriösen Villenbau umgesetzt wurde, spitzte Le Corbusier grafisch in Perspektiven zum Plan Obus für Algier 1931 zu. Sein Konzept einer Bandstadt mit integrierter Autobahn sah ein Angebot leerer Etagen mit Erschließung vor, innerhalb derer dann die BewohnerInnen ihre Häuser nach unterschiedlichem Geschmack erbauen können. Constant Nieuwenhuys, Yona Friedman und Kisho Kurokawa arbeiteten dieses Prinzip der frei zu bespielenden Fläche weiter theoretisch aus. Die erste Umsetzung dieses Ansatzes war in den späten fünfziger Jahren ein Etagenhaus von Erik Fridberger in Göteborg. Nikolaas John Habraken beschrieb 1961 in seinem Buch Supports detailliert die Vorteile einer solchen Trennung zwischen gemeinschaftlicher Trägerstruktur und privatem Ausbau auf den so entstandenen Etagen.
Diese frühen Ansätze des Umgangs mit der Unvorhersehbarkeit der Nutzung unter Einbindung der BewohnerInnen setzten sich mit verschiedenen gesellschaftlichen Ansprüchen in den Partizipationsprojekten der siebziger und achtziger Jahre fort. So entwickelten sich im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umbrüchen unterschiedliche Architekturkonzeptionen, die radikaldemokratische, anarchische, alternative, techno-utopische und reformistische Ansätze verfolgten und von autonomer Selbsthilfe bis zu flexiblem Fertigteilbau reichten.
Aus der grundlegenden planungstheoretischen Erkenntnis, dass sich Raum und darin Enthaltenes wechselseitig beeinflussen, folgte, dass kein Raum für angenommene Nutzungen gebaut werden kann, ohne dass diese sich in diesem Raum verändern. Konzepte, die Rückkoppelungsprozesse ermöglichen, Mängel akzeptieren, die Schaffung von Möglichkeiten fertigen Lösungen vorziehen, die prozessorientiert arbeiten, flexible Raumkonzepte anbieten und letztlich die Beteiligung unterschiedlicher Personen ermöglichen, beziehen sich auf diese Erfahrung.
Globaler Non-Plan
Gegenwärtig stellt sich unter verschobenen Vorzeichen erneut die Frage, wie mit den Grenzen der Planbarkeit von gebauter Umwelt umgegangen werden kann. Kollektive Landnahme und Selbstbau der eigenen vier Wände sind in großen Teilen der Welt herrschende Praxis, während staatliche Planung und Kontrolle sich oft nur auf nachträgliche Formalisierung von Siedlungen beschränkt. Diese Drittweltstädten zugeordneten Phänomene wie auch informelle Märkte und andere Armutsökonomien finden sich jedoch auch längst in Wohlstandsregionen Europas und Nordamerikas. So leben beispielsweise in der Peripherie Roms über 800.000 ZuwandererInnen in ursprünglich illegal errichteten Wohnungen, und Athen verändert und erweitert sich trotz einer hohen Dichte von staatlichen Planungseingriffen weiterhin unreguliert und prozesshaft. Die globalisierten Ökonomien und die in ihrem Kontext stattfindenden Bewegungen der Migration produzieren weltweit Metropolen jenseits der Planbarkeit. Die Ansiedlungspolitik globaler Konzerne für ihre Verwaltungseinheiten und Produktionsstätten sowie die Dynamik der Armutsmigration entziehen sich weitgehend lokaler und nationalstaatlicher Kontrolle. Diese Kräfte räumlicher Selbstorganisation und die instabilen ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stellen die Effektivität herkömmlicher Verwaltungsinstrumente radikal in Frage. Die diversen Praktiken der Raumproduktion entgehen immer wieder dem analytischen Blick. Zunehmend wird anerkannt, dass die Bedingungen, unter denen Stadt und Wohnraum entstehen, und die Anforderungen, die an sie gestellt werden, zu uneinsichtig, komplex und bewegt sind, als dass die Idee von zeitlich-räumlicher Kontrolle und Fixierung von Raum noch länger aufrecht erhalten werden könnte.
In den vielfältigen Strategien der Selbstorganisation und den Modellen partizipativer Architektur liegen Möglichkeiten, dieser Unvorhersehbarkeit gerecht zu werden und sich unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zu öffnen. Theorien und Bauten der NutzerInnenbeteiligung zeigen Perspektiven für eine andere Planung auf, die in der Lage ist, sich neu auf komplexe und prozesshafte Wirklichkeiten zu beziehen.
Was tun?
Im Kontext dieser veränderten gesellschaftlichen Umstände scheint jedoch eine direkte Fortschreibung der westeuropäischen Partizipationsstrategien der 1960er bis 1980er Jahre nicht denkbar. Die Handlungsoptionen dieser Projekte schwinden gemeinsam mit den sich zunehmend auflösenden wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen, an die sie zumeist gebunden waren. So entzog das Ende des sozialen Wohnungsbaus und die Aufkündung anderer auf gesamtgesellschaftlichen Ausgleich zielender staatlicher Eingriffe Mitbestimmungsprojekten den Bezugsrahmen. Andererseits haben die in der Bau- und Stadtplanungsgesetzgebung institutionalisierten und formalisierten Beteiligungserrungenschaften im Kontext privatwirtschaftlich bestimmter Stadtentwicklung ihre Wirkung weitgehend eingebüßt. Sie erscheinen zu starr, um effektiv Alternativen durchsetzen zu können, und zugleich zu dehnbar, um wirksamen Einspruch zu erheben. Sie sind eher auf Verfahrensverzögerung durch Widerspruch beschränkt und als Technik, um Zustimmung zu umstrittenen Vorhaben zu erlangen, diskreditiert.
Im anderen großen Tätigkeitsfeld historischer Partizipationsprojekte – dem Eigenheimbau im suburbanen Gebiet, der in sozialer und ökologischer Hinsicht weiterhin zu Recht kritisiert wird – haben FertighausherstellerInnen die professionelle Wunschproduktion und -erfüllung übernommen. In diesem Zusammenhang verengen sich die Handlungsspielräume der im Industriekapitalismus herausgebildeten Planerfigur. Dem in den sechziger Jahren selbstkritisch hinterfragten Berufsbild ArchitektIn wird zudem von ganz anderer Seite Legitimität abgesprochen. Neben GeneralunternehmerInnen und FertighausproduzentInnen übernehmen ProjektentwicklerInnen die Produktion ökonomisch verwertbaren Raums.
Diese Veränderungen stehen im Kontext der die Nationalstaaten überlagernden Allianzen globaler Ökonomien, aber auch der neuen sozialen Bündnisse und ihrer Intensivierung, Erweiterung und Beschleunigung von Austauschbeziehungen. Diese vervielfältigten Netzwerke und die verlangte und erstrittene Selbstbestimmung stellen neue Anforderungen an räumliche Planung und Praxis. Es entstehen lokale Handlungsräume unterschiedlicher Gruppierungen, in denen Gemeinschaftlichkeit, Kultur, alternative Ökonomien und Lebensstile geprobt und gelebt werden. Eine beteiligende Raumproduktion ermöglicht, diese Beziehungen zu verhandeln und Pluralitäten produktiv zu machen. Partizipative Architektur stellt die Frage nach Befugnis über die Gestaltung und Nutzung von Raum und setzt, zwischen der Verwirklichung radikaler Alternativen und der Integration von Widerständigkeiten, die bestehenden Verhältnisse einer Verhandlung aus.
In diesem Kontext eignet sich die Rolle von ArchitektInnen, die in unterschiedlichsten Kommunikationsbeziehungen und Hierarchien eingebunden ist, neue Aufgabenfelder aufzugreifen. Durch die multidisziplinären Auseinandersetzungen und Kooperationen mit BauherrInnen, NutzerInnen, Baufirmen, HandwerkerInnen, IngenieurInnen, InvestorInnen und Verwaltungsinstanzen geprägt, scheinen ArchitektInnen beste Voraussetzungen für verschiedenste Anforderungen und Formen der Partizipation mitzubringen. Ausgehend von ihrer Tätigkeit als InitiatorInnen, ModeratorInnen, UnterstützerInnen und Ausführende von Ansprüchen lassen sich in Bezug zu historischen Mitbestimmungsarchitekturen und -theorien neue Planungswerkzeuge erarbeiten. Partizipative Architektur forscht nach neuen Allianzen, Arbeitsmethoden und Aufgabenfeldern für räumliche Gestaltung, nach Ansätzen, die: vielfältige, sich ändernde Lebenspraktiken akzeptieren / ein Wohnen im Plural ermöglichen / unterschiedliche Vorstellungen von Raumnutzung aufgreifen // ökonomische Voraussetzungen zur Selbstbestimmung aufzeigen / das Eigentum an Baugrund oder Wohnraum in Frage stellen / kollektive Besitzverständnisse einbringen / die Dynamik der Selbstorganisation akzeptieren / die Potenziale des Selbstbaus nutzen // interdisziplinär entwerfen / nicht-endzustandsfixierte Räume entwickeln / auf zukünftige Anforderungen reagieren können / parametrische Architekturen denken / veränderbare Regelsätze programmieren / über Variantenbildung Vielfalt strukturieren // soziale Interaktion fordern / offene Entscheidungsstrukturen einführen / Verhandlungsräume zeitlich und personell erweitern / von einer tendenziell unbegrenzten Vielzahl Beteiligter ausgehen / Kommunikationstechniken für Laien erarbeiten / Informationen verfügbar machen / öffentliche Debatten über gebaute Umwelt initiieren // Planen als Ermöglichen begreifen / technische Unterstützung anbieten / durch Provokationen Aushandlungsprozesse initiieren / Regulierungen und Kompetenzverhältnisse hinterfragen / über Szenarien Anregungen zu Entwicklungen geben / mögliche Folgen durchspielen / nutzungsneutrale Räume anbieten / Umnutzung und temporäre Aneignungen mitdenken // Bauaufgaben bei den NutzerInnen suchen / ein Bauen auf Nachfrage denken / ökonomisch Benachteiligten Planungskompetenz anbieten / auf kulturell Ausgeschlossene zugehen / soziale Strukturen räumlich anregen / gemeinschaftliche Planungstools einsetzen / Mängel und Kompromisse akzeptieren / selbstgenerierende Ästhetik fördern / Bildfixiertheit überwinden / Kommunikationswerkzeuge der Informationstechnologie nutzen / flexible Baukonstruktionen anwenden / Kunden-individuelle Fertigungsmethoden testen / veränderbare Parameter in Baustrukturen integrieren.
Der Text ist ein Auszug aus der Einleitung zu: Jesko Fezer, Mathias Heyden (Hg.): Hier entsteht. Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung, metroZones 3, Berlin: b_books, 2004 Die Publikation entstand im Rahmen von Ersatzstadt (Jochen Becker, Stephan Lanz) in Folge des Bauexperimentes, der Ausstellung und der Veranstaltungsreihe »Hier entsteht« im Sommer 2003, Volksbühne Berlin.
Jesko Fezer
Mathias Heyden