Christoph Gollner


Man würde beim ersten Anblick einer Ausgabe von hintergrund nicht unbedingt ein Magazin eines Architekturzentrums vermuten: so glanz-, design- und zeitlos kommt es im unauffälligen, aber praktischen A5-Format daher. Dünn gesäte Schwarzweiß-Fotos und viel kleine Schrift füllen das grobe Naturpapier. Designlos? Nun ja, irgendwie 70er-Jahre-Alltagsdesign. Erinnerungen an die ganz normale Kindheitsumgebung. Und das so unprätentiös echt, so fern der momentanen modisch-nostalgischen Wiederbelebung, dass man sich lieber noch einmal des Erscheinungsdatums vergewissert.
Ja, das Jahr 2000. Keine schicke Ikone angesagter Architektur ziert das Titelblatt, sondern verstörend banale Bilder (nordamerikanisch-) urbaner Realität. Das Titelbild als Leitbild: hier geht es nicht um Promotion des Neuen und Schönen, nicht um Hochglanzperspektiven. Hier möchte niemand beeindrucken, mit Errungenschaften protzen. Ästhetik unters Volk bringen. Das Vorwort in Heft 01 spricht vom bewusst schnellebigen, billig produzierbaren Format. Die Zielgruppe scheint schon rein layoutmäßig definiert: intellektuelle ExpertInnen. Okay.
hintergrund ist das Ergebnis einer Diskussion, wie heute wesentliche Beiträge zur Architekturtheorie und -debatte verbreitet werden können (Vorwort hintergrund 01). Die Hefte eins bis neun - bisher sind fünf Hefte erschienen - veröffentlichen ausgewählte Texte von Referaten bei den Wiener Architektur-Kongressen seit 1995. Die Wiener Architektur-Kongresse widmeten sich mit Vorträgen und Diskussionen akuten Themen der europäischen Architektur und Stadtplanung und stellen damit eine der wenigen - die einzige? - zeitgemäße Bestandsaufnahme zu diesem Thema in Wien dar. Die zumindest teilweise Publikation von Beiträgen zu diesen Kongressen ist daher nicht nur erfreulich, sondern erscheint geradezu notwendig. Großer Vorteil für hintergrund: die qualitativ hochwertige Besetzung der Vorträge und Diskussionen bei den Architektur-Kongressen mutiert zu einer ebensolchen AutorInnenschaft mit unterschiedlichstem kulturellen und fachlichen Hintergrund für das Magazin. Die Welt ist groß und der Horizont ist weit, keine Nabelschau-Gefahr also.
Die ersten Ausgaben von hintergrund drehen sich um die Themen Gemeinplätze/ Conventional Thoughts im Chaos Europa (Heft 01 & 02 / 3. Wiener Architektur Kongress), Agglomeration European Sprawl (Heft 03 / 4. Kongress), Hearts of Europe Bypasses, Implants and Magnets for the Cities (Heft 04 & 05 / 5. Kongress). Schnellebige Themen? Alles andere als das: hintergrund bietet mit der Dokumentation der Beiträge viel eher einen zeitlos-relevanten Einblick in unsere Architektur- bzw. Stadtplanungsepoche, in den Zustand von Stadt um die Jahrtausendwende. Es finden sich theoretische Ausführungen genauso wie essayistische Analysen und konkrete Beispiele aus anderen Städten.
Die Vielfalt der Beiträge macht Spaß. Das reicht von konventionellerer Kritik an den Auswüchsen des globalen Tourismus und seine Auswirkungen auf die Städte wie bei Richard Ingersoll (Tourismus und das Überleben in der Realität, Heft 01) bis hin zu Aaron Betskys Beitrag Icons of the sprawl (Heft 03), in der er Ikonen der heutigen (westlichen, nordamerikanischen) Gesellschaft wie Jeans, Baseball-Schläger oder Surfbrett in Verbindung zum Symptom der Zersiedelung bringt: die Ikone als Sinnstifter, Verdichter, Sichtbar-Macher. Einwürfe wie diese gerade auch weil sie nicht unmittelbar in Problemlösungsdebatten münden wirken wohltuend befruchtend in einer sehr technisch orientierten österreichischen Planungsrealität. - Jedenfalls sind sie weitaus spannender zu lesen.
Intellektuelle Anregung: Den allermeisten Beiträgen ist nämlich die klare Positionierung der jeweiligen AutorInnen gemein. Wenn zum Beispiel Karl Schlögel (Historiker und Slawist in Frankfurt/Oder, nicht zu verwechseln!) die Geschichte und Gegenwart Moskaus im Beitrag Moskauer Metamorphosen (Heft 04) ausbreitet, dann scheint er so vollkommen beseelt von den Segnungen des Kapitalismus, dass man nur schwer umhin kann, nicht mit ihm gemeinsam der Stadt Moskau auf dem Weg zu einer normalen europäischen Metropole zu gratulieren. Da mögen beiläufige, aber freudig erregte Sätze wie Es gibt alles und wer das Zeug dazu hat, kann es sich besorgen den linken Moralisten vielleicht stören aber: man kann sich ein Bild machen von den wilden Umwälzungen einer Stadt, die vom totalen Umbau einer Gesellschaft herrühren. Lesenswert.
Überhaupt: Die sehr eindringlichen Schilderungen von Verhältnissen in anderen Städten - v.a. in den Heften 04 und 05, Hearts of Europe - veranschaulichen die Tragweite der gesellschaftlichen und kulturellen Wende, die sich mit Globalisierung, Tertialisierung oder den neuen Informationstechnologien in höchst unterschiedlicher Weise in Städten wie Barcelona, Moskau, London, Bilbao, Lille und Lyon vollzieht. Man darf in dieser Hinsicht auf eine Erweiterung der europäischen bzw. nordamerikanischen Perspektive - z.B. in hintergrund-Ausgaben zum Wiener Architektur-Kongress 1999: The Future of Cities. Learning from Asia. - gespannt sein. Vielleicht wird man auch noch mehr über Zustand und Problematik des ländlichen Raumes lesen können - in den bisherigen Ausgaben ging es vor allem um den Ballungsraum; nur Jean-Pierre Garnier in Von der territorialen Neuordnung zum sozialen Verfall streift das Thema ausführlicher.
hintergrund hat einen simplen Aufbau: Jedes Heft bringt drei Aufsätze, dazu die Comic-Reihen Crystal Clear bzw. That Yellow Bastard und unter dem Titel Me Too eine Vorstellung der Programm- und Veranstaltungsschienen des AZW.

Die bisher erschienenen Ausgaben von hintergrund lassen - den, der das will - eintauchen in die Faszination Stadt - die gebaute Stadt und vor allem auch in das komplexe soziologische Gebilde Stadt. Stadt mit all ihrer Ambivalenz, Undurchschaubarkeit, Ungreifbarkeit. Und mit all der Hilflosigkeit, mit der ArchitektInnen und PlanerInnen ihr häufig gegenüber stehen.
Die beiden Comic-Reihen fügen sich da gut in die sich abzeichnende Blattlinie: Crystal Clear's Tagebuch einer Stadt führt mit geradezu liebevoller Trockenheit an die Alltagsschauplätze Wiens, macht einen Rundgang anhand eines Reiseführers aus dem Jahr 1959, verfolgt die Geschichte einer stinknormalen Verabredung zum Konzert. Ein Gelegenheitsbankräuber landet den großen Coup und entspannt sich danach auf seiner Terrasse. Kleine Erregungen in der Beharrlichkeit der Wiener Gassen.
Bleibt die Frage, mit welcher Linie und mit welchen AutorInnen zukünftige hintergrund-Ausgaben dann, wenn der Rückstand der Publikation von Beiträgen zu den Architektur Kongressen aufgearbeitet sein wird gestaltet werden. Qualität und Bandbreite der vorliegenden Ausgaben legen die Latte hoch.
Wir werden es erleben. Bis jetzt jedenfalls ist hintergrund eine Fachzeitschrift mit Konsequenz: von ExpertInnen für ExpertInnen. Für Leute, die sich die Zeit nehmen, die die Sprache sprechen, die die Bilder mögen.
Und für die ist hintergrund eine feine Sache, ein höchst animierender, jawohl, Lesespaß.


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