Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Nicht mehr genutzte Industrie- und Gewerbegebiete, ehemalige Bahnhofsareale und ganz allgemein Brachen, vor allem dann, wenn sie zentrumsnah liegen, stehen in wachsenden Städten unter enormen Verwertungsdruck. In Wien werden derzeit zahlreiche solcher Flächen vor allem mit Wohnungen bebaut. Die größten Diskussionen ruft aber keine dieser zentrumsnahen Flächen hervor (Nord- bzw. Südbahnhofgelände, Aspanggründe, etc.) sondern das ehemalige Flugfeld Aspern, das im Osten Wiens liegt. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind von dort aus in Zukunft sowohl der im Zentrum Wiens liegende Karlsplatz als auch Bratislava in 30 Minuten erreichbar, so die Wien 3420 Aspern Development AG in ihren Werbebroschüren. Ganz anders als beim Flugfeld Tempelhof in Berlin – siehe den Artikel von Nikolai Roskamm in diesem Heft – ist die Entwicklung Asperns bis 2028 durchgeplant. 20.000 Menschen sollen zu diesem Zeitpunkt dort leben und arbeiten.
Die Wiener Stadtentwicklung musste sich in den letzten Jahrzehnten oft vorwerfen lassen, zu wenig geplant zu haben bzw. die Planung Investorendruck geopfert zu haben. Die Kritik an mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schlecht erreichbaren Wohnsiedlungen, die die BewohnerInnen praktisch dazu zwingen, das Auto zu verwenden und U-Bahnlinien die haarscharf an Bahnhöfen vorbeigeplant werden, kennt in Wien jeder. Bei der Entwicklung von Aspern hat man Vorwürfe dieser Art ernst genommen, was zur Folge hatte, dass sich die Baustelle für die U2 Station bereits breit machte, als von anderen Bautätigkeiten noch keine Spur war. Aber bei Aspern will man offenbar nichts dem Zufall überlassen und hat nicht nur Infrastrukturmaßnahmen rechtzeitig mitgedacht sondern auch genaue Vorstellung vom »Workstyle + Lifestyle« der künftigen BewohnerInnen. Aspern wird »das ganze Leben« vereinen wie die Marketingabteilung verspricht. Wie umfangreich die Planungen, auch was den öffentlichen Raum betrifft, sind, zeigt die Website http://www.seestadt-aspern.at nachdrücklich.
An dieser Stelle hakt nun die Künst-lerin Barbara Holub ein. Sie sieht den Fehler nicht darin, dass etwa zuwenig geplant wird, sie kritisiert die Vorstellungen von einer Zukunft, die, durchorganisiert und vorbestimmt, keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr offen lässt. Ein Anstoß für ihr jüngst erschienenes Buch found, set, appropriated waren mehrere sogenannter Stadtrandspaziergänge, die sie 2010 am Flugfeld Aspern, der künftigen Seestadt organisiert hat. Der Stadtrand steht hier symbolisch für das wenig Beachtete, das nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und gerade deswegen mehr Offenheit bietet. Das Zentrum muss funktionieren, es darf keine Überraschungen geben, alles muss geplant werden. Holub plädiert dafür, diese Randlage als Chance zu sehen, die Neugierde, Eigeninitiative, Lebendigkeit zulässt und ermutigt. Hier ist nicht Verwertbarkeit das oberste Ziel, hier dürfen, ja sollen Fehler passieren. Überraschungen werden begrüßt, weil sie Unvorhergesehenes mit sich bringen und nicht abgelehnt, weil sie Risiken bergen. »Was bedeutungslos erscheint, wird neue Bedeutung erlangen.«
Aus diesen Gedanken entwickeln sich gesellschaftspolitische Überlegungen grundsätzlicher Art, die auch auf die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft eingehen. Holub entwirft die Fiktion einer zukünftigen Gesellschaft, die sie Blue Frog Society nennt. Diese »arbeitet an einem Lebensraum, der heute noch unsichtbar für uns ist. An einem Gesellschaftsraum dem unabhängig von territorialem Denken eine neuen Form von gemeinschaftlichem Verständnis zu Grunde liegt, das den bisherigen Naturgesetzen im Sinne von survival of the fittest trotzt.« Holub versteht diesen visionären Entwurf als Kontrapunkt zum heute alles dominierenden Pragmatismus. Ihr Ansatz erinnert sicher nicht zufällig immer wieder an die Situationistische Internationale. Auf der dem Buch beigelegten CD, die ein in Kooperation mit dem Kunstradio von ORF/Ö1 produzieres Hörstück enthält, ist z.B. vom Schaffen von Situationen die Rede oder davon, poetische Momente im Alltag einzuführen.
Ein wichtiges Anliegen Holubs ist die Forderung KünstlerInnen bei Projekten, wie es die Seestadt Aspern eines ist, von Anfang an miteinzubinden und nicht erst zu einem Zeitpunkt, an dem es nur mehr um Reparatur gehen kann, wie das heute bei vielen Stadtteilprojekten der Fall ist. Sie fordert KünstlerInnen auf Verantwortung zu übernehmen und weiterzugeben.
Den Hauptteil des äußerst ansprechend gestalteten Buches nehmen Zeichnungen von Barbara Holub ein, die gelegentlich an Comics erinnern. Die Zeichnungen, die in den letzten Jahren entstanden sind und oft über mehrere Seiten reichen, zeigen urbane Alltagssituationen an weltweit ganz unterschiedlichen Plätzen. Freizeitbeschäftigungen sind hier ebenso Thema, wie politische Demonstrationen oder Parallelwelten. Die Zeichnungen sind, Holubs Plädoyer für Offenheit und gegen die »Überdeterminiertheit des Plans« folgend, konsequenterweise meist nicht vollendet, ermöglichen also theoretisch, dass BetrachterInnen selbst zum Stift greifen und sie weiterzeichnen. Holub spricht deswegen auch von einem Malbuch.
Ob dieser Vorschlag aufgegriffen wird oder man doch lieber dem Hörstück lauscht und dabei durch die Zeichnungen blättert, sich mit den 10 Aspekten der Blue Frog Society beschäftigt, Ines Gebetsroithers Text über found, set, appropriated liest oder die Fotodokumentation der Stadtrandspaziergänge ansieht, bleibt den LeserInnen bzw. NutzerInnen des Buches überlassen. Lohnend ist es in jedem Fall.


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