Vanessa Müller


Gordon Matta-Clarks Œuvre umspannt nur zehn Jahre, und doch hat es an der Schnittstelle einer radikalen Politik und Poetik des Raums tiefe Spuren hinterlassen. Die Splittings und Cuts, mit denen Matta-Clark in den späten 1960er- und 1970er-Jahren Gebäude dekonstruierte und im Sinne eines ›Entbauens‹ neu erlebbar machte, prägten seine ›Anarchitektur‹ als eine bis heute nachhallende Kritik der funktionalistischen Moderne.
        Dieser Ansatz war politisch, ökologisch, sozial, aber auch dezidiert vergänglich, wenn nach dem Abriss der modifizierten Häuser allein fotografische und filmische Dokumente übrig blieben. Das Spektakuläre dieser Interventionen in den gebauten Raum, die Performances ähnelten, aber auch als skulpturale Eingriffe firmierten, hat sich im Lauf der Zeit deshalb immer stärker in den Vordergrund der Rezeption geschoben und andere Facetten des Kollektiven und Transformativen überblendet.
        Die Ausstellung Out of the Box: Gordon Matta-Clark im Museum der Moderne in Salzburg sucht im Rückgriff auf archivarisches Material dieses Bild zu ergänzen, wenn nicht gar zu revidieren, indem sie weniger das Werk in seinen noch existierenden Relikten vorstellt als die Ideen und Inspirationen, die zu ihm geführt und die soziale Praxis, die es begleitet haben. Das ist in seinem Fokus auf persönliche Korrespondenz, Skizzenbücher, ungesehenes Filmmaterial, private Fotos und Bücher eine eher trockene Angelegenheit, zeigt angesichts des dominierenden, romantisierten Bildes vom Anti-Helden Matta-Clark jedoch sehr eindrücklich, wie man Archivmaterial im Format Ausstellung produktiv aufbereiten kann. Untergliedert in vier Kapitel, die von verschiedenen Kurator*innen verantwortet werden, stehen zeitgenössische Perspektiven auf Matta-Clarks heute im Canadian Center for Architecture (CCA) in Montréal befindlichen Nachlass im Fokus. Yann Chateigné hat Publikationen aus der privaten Bibliothek des Künstlers ausgewählt, die zeigen, wie heterogen seine Interessen waren. Unter dem Titel Material Thinking wird hinter der ins Skulpturale und Aktivistische übersetzten Architekturkritik eine Beschäftigung mit Alchemie, Anthropologie und Ökologie, mit Kybernetik und Baugeschichte, Psychoanalyse und Kognitionswissenschaften sichtbar. Bücher wie Gold Makers: Ten Thousand Years of Alchemy finden sich in dieser Sektion ebenso wie Publikationen von Buckminster Fuller, Bände zur Architektur der italienischen Renaissance oder Bernhart Leitners Veröffentlichung über das Wittgenstein-Haus in Wien. Zeichnungen von vegetativen Ordnungsmustern und Skizzen nie realisierter Projekte spiegeln Matta-Clarks Faible für präkolumbianische Architektur und Utopien eines Raums jenseits der endlichen Form.
        Im zweiten Kapitel präsentiert Hila Peleg seltene Filmrollen, Arbeitsschnitte und Videomaterial zu den ikonischen Werken Splitting (1974), Day’s End (1975) und Conical Intersect (1975). Diese Auswahl größtenteils noch nie gezeigter Super-8- und 16-mm-Filme offenbart eine für die damalige Zeit avancierte Dokumentationspraxis, der es um das Festhalten der Arbeitsphasen, der Dimension der Interventionen, aber auch das kollektive Moment ihrer Umsetzung ging. Neben der extremen physischen Aktion, die mit der Transformation der Gebäude verbunden war, steht deren anschließender Abriss. Gezeigt werden auch Outtakes des Films Food über das gleichnamige, von Matta-Clark mit befreundeten Künstler*innen geführte Restaurant in New York. Auch hier liegt der Kamerablick auf dem urbanen Umfeld des Projekts im Sinne einer Initiative gegen Spekulation und Gentrifizierung, die auf Teilhabe und kollektives Handeln setzt.
        Augenöffnend ist vor allem aber die von Kitty Scott aufbereitete, umfangreiche Reisefotografie von Matta-Clark. Als Prototyp des nomadischen Künstlers fand er sein Verständnis von Kunst als soziale Praxis im gelebten Alltag jener Länder, die er bereiste. Fotos zwischen Erinnerungsskizze und Recherche zeigen Impressionen aus Haiti, Jamaika und Deutschland, Garküchen und Märkte in Südamerika, Tiere in Städten, Volkskultur, spielende Kinder in Paris, Hütten und zerfallene Häuser in den USA. Es sind Aufnahmen in Schwarzweiß und Farbe, die nebeneinander projiziert werden wie ein Bildessay. Matta-Clark schien fasziniert von den Kultstätten der Maya in Mexiko, den Tempelruinen, dem Überwucherten, aber auch den improvisierten urbanen Architekturen, dem Leerstand und dem Zerfall. Ob Briccolage, Natur und Behausung im Einklang oder Leben, das sich auf der Straße abspielt: Die aus dem großen Konvolut ausgewählten Bilder, allein mit dem Ort und dem Jahr ihrer Entstehung versehen, wirken wie Notizen zu künftigen eigenen Werken. Was Matta-Clark auf seinen ausgedehnten Reisen fand, suchte er später aktiv in New York, Paris und Antwerpen: zeitgenössische Ruinen der Moderne, in denen die Vorstellung einer in sozialer, ökonomischer und ethischer Hinsicht anderen Architektur zur Utopie in Auflösung wird. Seine Dekonstruktionen setzten ihre markanten Zeichen gegen eine Städtebauökonomie, die Architektur primär utilitaristisch begriff, bewusst in eine bereits poröse Textur.
        Das letzte Kapitel schließlich zeigt Bestände aus dem Museum der Moderne. Der Künstler Hans Schabus hat ein Display aus den Gipskartonwänden vorangegangener Ausstellungen geschaffen, die als Podest für die auf Monitoren gezeigten, kompletten Filme Matta-Clarks dient. Auch sind allein auf einem großen Podest 24 Aktenordner mit abgehefteten Briefen zu sehen – die hermetisch in sich ruhende Korrespondenz des Künstlers mit Galerien, Museen, Immobilienfirmen, Sponsorinnen, Fördergeber*innen und Werkzeugfirmen, die er zu Kompliz*innen im Kampf um die Realisierung seiner Kunst zu machen suchte. Diese, das macht diese wunderbar spröde Ausstellung deutlich, war gleichermaßen Konzept wie ausgeführte Handlung, und auch die materielle Manifestation des Werks letztlich nur ein kurzer Zwischenstopp zwischen Raumvision und Ruine.


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