Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Sozialräumliche Differenzen waren von Anbeginn ihrer Entstehung ein prägendes Merkmal kapitalistischer Städte, und auch die Untersuchung selbiger hat eine lange Tradition. Die Erklärungen dieser Differenzen beinhalten vorrangig gottgegebene, natürliche, moralische oder gesellschaftspolitische Argumente. Man denke an Friedrich Engels’ Untersuchung über Die Lage der arbeitenden Klasse in England oder an Charles Booths Mammutwerk Life and Labour of the People in London und natürlich die Arbeiten der Chicagoer Schule unter Robert Park etc. Anliegen der Herausgeber des Bandes Urbane Differenzen ist eine verstärkte Analyse der politischen Ursachen, die sie in der gegenwärtigen Forschung vernachlässigt sehen. Das Buch teilt sich in die Diskussion der aktuellen urbanen Tendenzen und ökonomischen sowie politischen Entwicklungen, in die Analyse konkreter Aspekte dieser Entwicklungen und in den Vergleich unterschiedlicher Städte anhand konkreter Auswirkungen aktueller Problemfelder sowie den Versuch einer grundsätzlichen Erklärung der Ursachen für die Bedeutung und Position von Städten im globalen politökonomischen Wettbewerb um Einfluss und Macht.
Eine der zentralen Thesen des ersten Teils des Bandes ist die der Reurbanisierung. Sie ist insofern sehr wichtig, als ihre Auswirkungen auch bei den meisten anderen Entwicklungen im urbanen Raum von Bedeutung sind. Klaus Brake weist überzeugend nach, dass es sich dabei nicht um einen vorübergehenden Trend, sondern um »einen Entwicklungsprozess« handelt, »der mit dauerhafter Wirkung zu einer neuerlichen materiellen Bedeutungszunahme und Inwertsetzung von Städten beiträgt«. Die Prognosen vom durch Kommunikationstechnologie verursachten Tod der Städte ist nicht eingetreten. Im Gegenteil: Städte haben »deutlich bessere Chancen als ländliche und schwach verdichtete Räume« (Floeting, Henckel und Meier). Die technischen Möglichkeiten für Dezentralisierung waren nicht unbedingt entscheidend für das, was dann tatsächlich passiert ist. (Große) Städte punkten durch Arbeitsmärkte mit spezialisierten, flexiblen, hoch qualifizierten Arbeitskräften, mit der Möglichkeit, informell face-to-face-Kontakte zu knüpfen, Kooperationen leichter einfädeln zu können etc. Speziell für die wissensintensive Ökonomie und die Kreativwirtschaft sind »soziale, kulturelle, institutionelle, organisatorische, kognitive, zeitliche Nähe« wichtig. Während explizites Wissen leicht und ohne Zeitverlust rund um die Welt geschickt werden kann, ist implizites, d. h. noch personengebundenes Wissen »in gewisser Weise lokal gebunden und gilt insofern als kommunizierbar nur im unmittelbaren Austausch.« (Brake) Entgrenzungsprozesse auf der Ebene von Berufs- und Privatleben haben die »Abhängigkeit von spezifischen räumlichen, insbesondere städtischen Kontexten« (Floeting, Henckel und Meier) erhöht. Gut organisierte Städte, die Infrastruktur, Atmosphäre, Bildung, Kultur und Erholung bieten, sind für Menschen, die mit deregulierten und flexiblen Arbeitsbedingungen und somit einem ebensolchen Alltagsleben konfrontiert sind, als »Rückbettung« notwendig.
Aber genauso wie nicht alle Städte Profiteurinnen dieser Entwicklung sind, sind bei weitem nicht alle BewohnerInnen und Arbeitskräfte einer Stadt NutznießerInnen. Städte, die den ökonomischen Paradigmenwechsel nicht rechtzeitig erkannt haben, zu klein sind, über zu wenige qualifizierte Arbeitskräfte verfügen oder nicht attraktiv genug für Zuwanderung sind, können der Wissens- und Kreativökonomie nicht das Umfeld bieten, über das global cities verfügen. BewohnerInnen der erfolgreichen Städte sind wiederum mit hohen Lebenskosten, Gentrification und einer zunehmend polarisierten Gesellschaft konfrontiert. Am Erfolg können nur diejenigen partizipieren, die die Voraussetzungen erfüllen bzw. auch erfüllen wollen und bereit sind, ihr Leben dementsprechend auszurichten. Gleichzeitig auftretende Arbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel sind eine typische Entwicklung.
Hans-Joachim Bürkner habe ich zu verdanken, nun auch endlich zu wissen, was Intersektionalitätsforschung ist. Der Intersektionalitätsbegriff kommt ursprünglich aus den Gender- und Queer-Studies, bezeichnet mittlerweile jedoch jegliche Überschneidung bzw. Verschränkung von Diskriminierungserfahrungen und Herrschaftsverhältnissen. Bürkner sieht in den aktuellen Veröffentlichungen der Intersektionalitätsforschung die Möglichkeit, »sozialräumliche Disparitäten (...) nahtlos in das Konzept (zu) integrieren.« An den aktuellen integrationspolitischen Debatten über sozialräumliche Disparitäten und soziale Mischung kritisiert Bürkner vor allem die »kulturalistische Deutungslinie sozialer Ungleicheit«.
In Teil 2 des Buches dienen Freiraumplanung, Kriminalität, die Neoliberalisierung der kommunalen Selbstverwaltung und die Armutsberichterstattung als Beispiele für Disparitäten in der Stadt. Auffällig ist hierbei der mehrfache Rückgriff auf Theorien vergangener Jahrzehnte mit dem Hinweis, dass politische Analysen damals noch »gesellschaftswissenschaftliche Ansätze« (Marit Rosol) hatten, bzw. dem Verweis darauf, welche Tatsachen heute alle nicht mehr Allgemeingut sind (Bernd Belina). Sehr informativ ist die historische Abhandlung über die kommunale Selbstverwaltung und Kritik an der Neoliberalisierung ebendieser von Wolfgang Müller und Detlev Sträter.
In Teil 3 geht Christof Parnreiter der Frage nach, warum Städte in ökonomischer Hinsicht erfolgreich werden und sind, und bedient sich dabei der Weltsystemanalyse von Immanuel Wallerstein sowie Theorien von David Harvey und Jane Jacobs, was ganz amüsant ist, da Harvey und Jacobs einander eher widersprechen als ergänzen. Andrej Holm vergleicht Ursachen, Ablauf und Auswirkungen von Wohnungsprivatisierungen in London, Berlin und Amsterdam, und Carsten Keller sieht sich ausgehend von den Aufständen in den französischen Banlieues 2005 ähnliche Ereignisse in anderen europäischen Städten an, hatte aber das Pech, dass er die heurigen Ereignisse in den Mittelmeeranrainerstaaten nicht mehr berücksichtigen konnte.
Das Buch kommt insgesamt aber gerade zur rechten Zeit, weil vieles im Umbruch ist, sich neue Entwicklungen langsam abschätzen lassen und genaue Analysen der aktuellen urbanen Situation wichtig sind, weil solche Momente oft Möglichkeiten und Perspektiven eröffnen, die in normalen Zeiten chancenlos sind.


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