Frédéric Singer

Frédéric Singer hat in München, Zürich und Paris Architektur studiert und macht derzeit eine berufsbegleitende Ausbildung an der Schule Friedl Kubelka für künstlerische Fotografie. Er lebt und arbeitet freiberuflich an der Schnittstelle zwischen Architektur und Fotografie in Wien.


Wenn Gesinnung Form wird ist eine Fotoessaysammlung zur Nachkriegsarchitektur der BRD. Mit dem aus 29 Essays in 13 Kapiteln bestehenden Werk schließt Arne Schmitt sein Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig ab. Das Buch ist auch Begleitpublikation zur gleichnamigen, jüngst vergangenen Ausstellung im Sprengelmuseum in Hannover. Anstelle eines Vorworts verweist Schmitt auf Geräusch einer fernen Brandung (2008), eine seiner zahlreichen vorhergehenden Publikationen, in der er mehrspurige Einfallstraßen dokumentiert, vollseitig präsentiert und wortlos auf das suggerierte Geräusch des Verkehrs anspielt.
Die Intention einer Einleitung in das Thema anhand einer Bildstrecke zum Thema Mobilität erscheint klar, das erste Bild ist dementsprechend selbsterklärend und funktioniert auch als Einzelbild. Die anschließende Redundanz der Bilder, welche zusätzlich durch eine Serie über das »Haus des Straßenverkehrs« ergänzt werden, scheinbar um den Bezug zu dem Thema der Bewegungsstränge zu unterstreichen und zu kontextualisieren, wirkt für eine allgemein gehaltene Einleitung thematisch zu eingleisig. Waren doch zur damaligen Zeit weitaus mehr Themen wie Funktionalismus, Demokratie, soziale Stadt und Marktwirtschaft, Licht, Raum und Luft auf der Agenda des Wiederaufbaus.
Die Aussage der Bildstrecke aus Gießen erscheint in dieser Hinsicht einleuchtend. Sie wirkt jedoch gegenüber den Beispielen aus Hamburg oder dem Jan-Wellem-Platz in Düsseldorf, der durchaus mit der aktuellen und kontrovers diskutierten Wiederbelebung des Escher-Wyss-Platzes in Zürich zu vergleichen ist, nicht unbedingt relevant für diese wortlose Einleitung in das Thema. Die aktuelle Ohnmacht gegenüber der Leere und Größe der damals in einem anderen Zeitgeist geplanten städtischen Räume wird im ersten Kapitel Die alte Mitte sehr anschaulich dargestellt. Das Alvar-Aalto-Kulturhaus und das Rathaus von Wolfsburg sind die raumbildendsten architektonischen Elemente und gelungene Beispiele für den Überbegriff Mitte. Der Essay über das VW-Werk dagegen erscheint nicht so dienlich, wirtschaftlich gesehen hält dieses zwar eine zentrale Position inne, aber als solches verstanden stellt es ein geschlossenes System dar und hat durch seine abgeschiedene Lage mit einer geografischen Mitte wenig gemein.
Der daran anschließende Kasseler Stadtrundgang mischt unter interessante Stadtansichten wie die Treppe am Weinbergbunker und die wirklich gelungene Nachkriegsarchitektur der klassischen Moderne, wie etwa das AOK Gebäude von Konrad Proll (1957) oder das Staatstheater von Paul Bode und Ernst Brundig (erbaut 1955 bis 1959), unverständliche Reportage-Stills und einvernehmlich schandhaft gestaltete Bauten. Nebst einer nicht nachvollziehbaren Bildwahl liegt der Fokus der Detailansichten oftmals allzu sehr auf Logos und Marken und lässt die eigentlichen architektonischen Merkmale in der Unschärfe zurück.
Am Beispiel Köln wiederholt sich dieser Blickpunkt. Die Innenstadtserie beginnt recht plakativ mit dem Emblem der Marke Kölnisch Wasser. Die abgebildeten Klischees zu Hauptbahnhof, Domplatte und Museum Ludwig sind ebenso unsortiert und lassen die Frage nach den städtebaulichen Werten und Qualitäten kommentarlos offen. In weiterer Folge nimmt sich der Autor der damaligen Prämisse des Wohlstandes für Alle an, lässt den Leser aber im Unklaren ob er das Dargestellte als Sozialkritik versteht. In diesem Fall wäre eine ausführlichere, überlegtere und sensiblere Herangehensweise wünschenswert gewesen. Ebenso wie beim darauffolgenden Beispiel Bonn: Anstatt einer simplen Ablichtung eines Zeitungsartikels aus dem Jahr 1977 zu einem Treffen im Kanzlerbungalow des Münchener Architekten Sep Ruf (Auf dem Höhepunkt des Deutschen Herbstes traf sich Helmut Schmidt mit Siegfried Lenz, Heinrich Böll, Max Frisch und dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld anlässlich der Entführung der Landshut durch RAF-Terroristen) wäre eine überlegte fotografische Arbeit zu diesem wirklich herausragenden und durch seine zurückhaltende Klarheit, zu einem für die Demokratisierung der BRD symbolhaft gewordenen Bauwerk schlichtweg angemessener gewesen.
Das Kapitel Anzeige gegen unbekannt geht sprichwörtlich ins Leere und zeigt in einer aussagelosen Bildsprache unter anderem wenig überzeugende Ansichten des Ihme-Zentrums in Hannover und am Beispiel des Karstadt in Hamburg-Eimsbüttel zwar plakativ brutalistische Architektur, diese wäre jedoch, bezugnehmend auf das Raumprogramm und ihrer doch aussagekräftigen Ausführung, dialektischer zu diskutieren.
Paradoxerweise bilden die Reste des Authentischen eines der stärksten Kapitel des Buches. Die Bildwahl der Vorder- und Rückseiten der Frankfurter Innenstadt sowie die Darstellung wie reliquienartig, eingezäunt mit dem öffentlichen Raum rund um die ehemalige St. Nikolaikirche in Hamburg umgegangen wird, ist erstaunlich knapp und prägnant. In der Entfernten Nachbarschaft in Hamburg finden sich Hinterhöfe des Gängeviertels mit dem Unilever-Hochhaus zusammen und zeigen dieses heterogene aber lebendige Gegenüber auf einfache Art auf. Die aufgezeigten Gegensätze ziehen sich in weiterer Folge durch die letzten Kapitel vorbei am Mainzer Rathaus, der Essener Innenstadt und der Zeche Zollverein durch den Chemie Campus in Marburg und wieder zurück an den Rhein nach Koblenz um schließlich in einer Art Epilog im Zentrum von Marl mit den zwei Rathaustürmen, damals als erste ihrer Art hängend errichtet, zu münden. Es ist gerade die Ambivalenz zwischen der Wertschätzung der Arbeit der Architekten und Ingenieure dieser Zeit und dem städtebaulichen Ergebnis beziehungsweise dessen heutiger Akzeptanz in der Bevölkerung, welche das Verdikt gute oder schlechte Nachkriegsarchitektur verhindert oder erschwert. Fazit ist aber, dass die Fotografie auf den ersten Blick zwar ein einfaches Medium zu sein scheint, das selbsterklärende Bilder schafft, frei nach der Art wie man mit dem Zeigefinger auf etwas deutet und sie einem sagt »Du musst nur hinsehen, hier und dort! Siehst Du?«, die Herausforderung jedoch an ihr, in der Wahl des Motivs und des Standpunktes liegt.
Anders als beim bloßen Hinsehen, ob­liegt es der Hand des Fotografen, Ausschnitt, Blickwinkel und Auslösemoment so zu wählen, dass der Betrachter versteht, worum es dem Autor des Bildes inhaltlich geht und welchen Standpunkt er gegenüber dem Dargestellten einnimmt. Damit, und durch eine zurückhaltende Auswahl aber präzise Anordnung, löst er mögliche Gedankengänge und Reflexionen beim Rezipienten erst aus.
Obgleich es offenbar zur Handschrift von Arne Schmitt gehört, diese soziopolitischen, städtisch-architektonischen Vernetzungen in einer »betont nüchternen, lakonisch anmutenden Bildsprache« (Pressetext Sprengelmuseum Hannover) zu zeigen, lassen die Beispiele und deren Auswahl diese sicher nicht einfach zu formulierende Stellungnahme und somit deren Streitbarkeit gegenüber dem Thema jedoch im Buch allzu oft vermissen. Ebenso wie weitere Beispiele aus Berlin oder München, Städte in denen das Thema Nachkriegszeit, Wiederaufbau, Gedenken und Gesinnung damals wie heute mindestens genau so groß geschrieben wird.


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