Christa Kamleithner


Die Rede vom „Raum“ und mehr noch vom „sozialen Raum“ hat schon seit längerem Konjunktur. In den Kultur- und Sozialwissenschaften wird damit eine vernachlässigte Kategorie wieder belebt und in den Wissenschaften, die sich dezidiert mit „dem Raum“ beschäftigen, wie Geografie und Stadt- und Raumplanung, wird dieser komplexer gedacht, nicht mehr als Newton’scher Behälter-, sondern als Beziehungsraum. Diese neue Raumauffassung verhindert jedoch nicht, dass abgrenzbare geografische Bereiche nach wie vor oder gerade wieder eine soziale und politische Rolle spielen und „das Soziale“ (re-)territorialisiert wird. Während die wissenschaftliche Beschäftigung den sozialen Raum als soziales und mediales Gefüge denkt, das über geografische Grenzen hinweg seine Wirksamkeit entfaltet, gehen Politik und Verwaltung nach wie vor von mehr oder weniger genau kartierbaren Sozialtopografien und damit von sozial homogenen Nahräumen aus. (Siehe dazu Fabian Kessl, Christian Reutlinger, Susanne Maurer und Oliver Frey (Hgg.): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, insbesondere die Einleitung.) Dies hat eine lange Tradition, jedoch werden diese aktuell neu entdeckt und zu zentralen Bezugspunkten gouvernementaler Intervention.

Diese „Territorialisierung des Sozialen“ ist Thema des Bandes von Fabian Kessl und Hans-Uwe Otto. „Das Soziale“ wäre dabei zunächst als Erfindung der Sozial-politik Ende des 19. Jahrhunderts zu deuten, gedacht als ein verschiedene soziale Gruppen übergreifender Raum des Ausgleichs und der Solidarität, dessen räumliche Grenzen jene des Nationalstaats sind. Sowohl das Soziale wie der Raum bleiben in dieser Konzeption eigentümlich abstrakt, beides meint politisch-rechtliche Setzungen, die nur in geringem Maße lebensweltliche Bezüge haben; alltäglich gelebte soziale Räume, örtlich gebunden oder auch nicht, spielen dafür keine Rolle – im Gegenteil sollen eben diese transzendiert und Teil eines größeren Ganzen werden. Mit dem Ende des Wohlfahrtsstaates, das mit einer Krise des Nationalstaates zusammenfällt, findet eine Neujustierung des Sozialen statt, das nunmehr als geteiltes erscheint und auf spezifische soziale Gruppen bzw. räumliche Einhei-ten bezogen wird. Quartiere, Städt-e und Regionen spielen damit eine neue und größere Rolle in der Wirtschafts- und Sozialpolitik.(Siehe dazu Kessl in diesem Heft wie auch die anderen Beiträge zum Schwerpunkt.) Dies kann man als „Reterritorialisierung“ des Sozialen deuten, als Verschiebung vom nationalen zum regionalen und lokalen Maßstab, aber auch als neuartige „Territorialisierung“ des Sozialen, insofern den geografischen, gebauten und alltäglich gelebten Räumen nun eine neue Rolle zukommt.

Die Beiträge des Bandes entstammen den Feldern der politischen Ökonomie, der Stadtsoziologie, Kriminologie und Sozial-pädagogik, mit einem Schwerpunkt auf dem letzteren; die nationalen Bezugspunkte der Beitragenden sind Deutschland und Großbritannien. Bob Jessop, der das Thema und seine Hintergründe ausführlich aufrollt, spricht von einem „Prozess der Umskalierung“ sozialer Arbeit und Politik, der mit einer Relativierung von Skalen einhergeht und diese zum Objekt politischer Verhandlung macht: Es ginge bei den gegenwärtigen Entwicklungen weniger um eine Ablöse eines räumlichen Maßstabs durch einen anderen, sondern um Schwerpunktsetzungen innerhalb eines Geflechts von Ebenen. „Scale Jumping“ wäre für Jessop in diesem neuen Rahmen eine empfehlenswerte politische Strategie, also eine Verknüpfung der verschiedenen Ebenen und der Möglichkeiten, die diese bieten. Eine solche Strategie könnte den Problemen begegnen, die mit einem einseitigen Fokussieren der lokalen Ebene verbunden sind: Jens Dangschat zeigt in seinem Beitrag das Paradox und die Probleme des neuen Lokalismus in der Sozialpolitik auf, die einerseits von einer Benachteiligung in sozial homogenen Armutsgebieten ausgeht und andererseits die sozialen Netze in diesen Gebiete fördern möchte, um deren endogene Potenziale zu fördern. Übersehen werde dabei, bewusst oder unbewusst, dass die Benachteiligung in diesen Gebieten Effekt struktureller Ausgangsbedingungen sei und nicht (nur) lokal aufgelöst werden könne.

Die einzelnen Aufsätze vertreten durchwegs verschiedene Auffassungen und bewerten die neueren Entwicklungen unterschiedlich. Insbesondere die kriminologischen Beiträge von Susanne Krasmann und Daniel Gilling zeigen auf, dass der neue Lokalismus zu Festschreibungen sozialer Unterschiede im geografischen Raum führen und dabei Exklusionsräume erzeugen kann. Das Interesse der Kriminologie verschiebt sich zusehends in Richtung einer ökonomisch effizienten Prävention. Eine Strategie ist dabei „Community Policing“ oder „Neighboorhood Watch“ und damit die Förderung von Kontrolle durch die BewohnerInnen eines Gebietes selbst, begleitet wird dies durch Sicherheitsstrategien auf räumlicher und technischer Ebene. Beides fördert die sozialräumliche Segregation und erzeugt wieder jene „gefährlichen Klassen“ und die dazu gehörigen abseitigen städtischen Räume, die schon das 18. und 19. Jahrhundert kannte.

Daneben gibt es auch weniger skeptische Beiträge. Das Spektrum der theoretischen Zugänge zur Neuskalierung des sozialen Raumes, die insgesamt wie auch in diesem Band zu finden sind, kann man mit John Clarke folgendermaßen umreißen: Es gibt jene, die nur negativ von einer Aushöhlung des (Wohlfahrts-)Staates sprechen; jene, die positiv auf die Förderung von Zivilgesellschaft zielen; und jene, die wie etwa Nikolas Rose in Anlehnung an Foucault in den neueren Entwicklungen die Herausbildung einer neuen Gouvernementalität sehen, die weder zu Unordnung noch zu mehr Freiheit, sondern zu einer neuen Ordnung, einem „Regieren durch soziale Nahräume“ oder „Communities“, führt. Diese avancierte Sicht kommt im Band von Kessl und Otto, in dem sich auch Beiträge finden, die ihr Vertrauen einfach auf die Förderung lokaler Öffentlichkeit setzen und damit verbundene Kontrollmechanismen und Exklusionsprozesse übersehen, tendenziell zu kurz. Insgesamt steht eine Auseinandersetzung mit Fragen des „sozialen Raumes“ im Vordergrund, nicht der offenbar immer noch wenig verbreitete Gouvernementalitätsdiskurs, zu dessen Verbreitung dieses Heft beitragen möchte.


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