Detlev Ipsen


Wo und wie wir wohnen, so denken die meisten, ist eine ganz und gar persönliche Entscheidung. So wie die Wahl einer Freundschaft rückt das Wohnen an den persönlichen Kern jedes Einzelnen heran. Diese Ansicht ist wohl richtig und falsch. Die Wahl einer Wohnung und eines Quartiers, in der die Wohnung liegt, ist genauso sozial strukturiert wie die Wahl des Partners oder der Partnerin, die Vorliebe für eine bestimmte Kleidung und die für Urlaubsorte. Wenn wir eine Wahl für ein bestimmtes Quartier, ein Haus oder eine Wohnung treffen, so leiten uns Bilder. Hinter diesen Bildern steht ein bestimmter Zeitgeist, eine soziale Schicht, ein Milieu; manchmal stehen hinter diesen Bildern Konzepte, Lebensentwürfe, Weltanschauungen.
Gehen wir zuerst mal der Frage nach, woher diese Bilder stammen und fragen uns dann, wie sie entstehen. Die Antworten auf beide Fragen können dann zu einer Klärung beitragen, wie persönlich und wie gesellschaftlich die Wahl einer Wohnform ist.

Die Kultur und der Müll

Michael Thompson hat vor einigen Jahrzehnten eine Beobachtung, die wir alle machen können, zu einer Theorie verdichtet. Kulturelle Gegenstände stehen in einem zyklischen Verhältnis zu dem Wert, den man ihnen zukommen lässt. Das Bügeleisen der Mutter, das der Sohn achtlos in einer Ecke des Dachbodens »entsorgt«, wird Jahrzehnte später wieder hervorgekramt, weil ein Enkel es »stark« findet. Kulturelle Gegenstände werden nach einigen Jahren entwertet und nach weiteren Jahren wieder aufgewertet. So geht es auch Wohnungen, Häusern und Quartieren. Die gründerzeitlichen Quartiere waren spätestens nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr beliebt. In den sechziger und bis in die siebziger Jahre drangen niedrige Einkommensschichten in die ehemals bürgerlichen Quartiere vor. Viele waren dem baulichen Verfall preisgegeben, einige wurden abgerissen. Doch schon in den siebziger Jahren entdeckten Studierende den Charme der alten Häuser. Sie eigneten sich auch für die Gründung von Wohngemeinschaften, da die Wohnungen preiswert und groß waren. In die alten Quartiere sickerten Pioniere einer neuen Lebensweise ein, hier wurden revolutionäre Konzepte entworfen. Nach einigen Jahren zogen Haushalte nach, die ein höheres Einkommen hatten oder aus Studierenden waren Führungskräfte geworden. Nun begann die Stadterneuerung, die »Spekulation«, die Verdrängung ....
Drastischer ging es noch den Dörfern und am extremsten den ehemaligen Dörfern in den Städten. Mit hohem Engagement und in manchen Fällen beinahe hasserfüllt wurden Bauern umgesiedelt und ihre Häuser abge-rissen. So hieß es in einer Broschüre, die den Abriss eines historischen Dorfes kommentierte:

»Die Stadt ist jung und prangt in allen Anzeichen jugendlicher Frische, Kraft und Schöne. Der Randteil ist alt und behaftet mit dem unvermeidlichen Gebrechen des Alters. Er muss in die Jungmühle (...). Heraus aus der Enge, heraus aus dem Käfig stumpfsinniger Gewohnheiten! Fort mit dem Gewinkel und Gerümpel einer unbewältigten Vergangenheit! (...) Wir müssen Licht, Luft und Sonne hereinlassen.«[1]

Raumbilder

Dies führt uns zu dem nächsten Gedanken. Die Auf- und Abwertung einer bestimmten Form des Wohnens ist nicht nur modisch. Oder besser gesagt, in der Mode kann sich eine Auseinandersetzung um die Frage des richtigen und guten Lebens manifestieren. Entwicklung ist die Auseinandersetzung um Interessen. Wer seine Interessen zur Leitlinie der Entwicklung machen will, muss das Allgemeine oder möglichst viel des Allgemeinen einbeziehen. Um den öffentlichen Diskurs zu beherrschen, seine Konzepte vorherrschend werden zu lassen, muss man Begriffe und Bilder prägen. Eher selten geschieht dies strategisch und von einigen wenigen gesteuert. Eher ist es eine Bündelung verschiedener Akteure, die einen cultural flow in Bewegung setzt, der bei Erfolg mehr und mehr Menschen, Ideen und Kapital zu einem Strom zusammenführt. Bilder spielen dabei eine bedeutende Rolle, da sie eine Sprache sprechen, die von vielen begriffen werden kann. Bestimmte Gegenstände verdichten sich zu Bildern und verbinden sich mit bestimmten Interpretationen. Raumbilder verdichten Ideen, Konzepte, Interessen und Kapital in bestimmten räumlichen Ensembles. Sie laden sich mit Deutungen und Bedeutung auf, stehen nicht mehr für sich, sondern für etwas, strahlen aus oder zeugen von dem Niedergang einer Idee.[2]

Feindliche und liebliche Dörfer

Ländliches Wohnen auf dem Land oder gar in der Stadt spiegelt den Wandel der Raumbilder gut wider. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts standen viele dem bäuerlichen Leben noch so nah, dass sie sich davon in dem Streben, modern zu sein, behindert fühlten. Der Abriss der Häuser, der Bau neuer städtischer Wohnungen auf dem Land, die Flächensanierung städtischer Dörfer entsprach einer inneren Lösung von einem Bild des Lebens, das man hinter sich bringen wollte. Am Anfang dieser Entwicklung, ging es darum, Dörfer zu säubern und zu ordnen. Es gab in den fünziger Jahren staatliche Programme, durch die die ordentlichsten Misthaufen prämiert wurden.[3] Später ging es darum, die Misthaufen aus den öffentlichen Bildern zu entfernen. Sie wurden von der Straßenseite in den Hof verlegt. Das Programm der sozialen Aufrüstung des Dorfes setzte dann prinzipieller an. Die Menschen auf dem Lande sollten von dem Odium befreit werden, »Menschen zweiter Klasse zu sein«[4]. Das Programm brachte mit neuen Dorfgemeinschaftshäusern nicht nur die moderne Küche und den Fernseher aufs Dorf, sondern auch das städtische Vorstadthaus mit gepflegtem Rasen im Vorgarten. In den siebziger Jahren entwickelt sich dann im Rahmen der 68er Bewegung eine Umwertung des Landes. Die Linke entdeckt in der »Rückschrittlichkeit« des Landlebens die Pflege des Gebrauchswertes als einen antikapitalistischen Kern. Henri Mendras schreibt in seinem Buch Reise ins Reich der Ländlichen Utopie über die Buchführung eines Bauernhofes: »Erstens ist das hier kein Betrieb und zweitens ist er nicht rentabel«[5]. Wein und Armagnac erhält der alte Bauer von seiner Tochter, Ziegenkäse von seinem Enkel, Entenleber von dessen Frau. Die Alternativbewegung geht aufs Land und verbindet Fachwerk nicht mit rückschrittlichem Landleben, sondern verwendet es als Symbol gegen die Modernisierung. Nach diesen ersten Umdeutungen ländlicher Lebensweise beginnt keine zwanzig Jahre später die Dorferneuerung, das alte Dorf, die Ruderalvegetation, der Dorfbrauch werden wiederentdeckt. Das Ergebnis sind zumindest im Umfeld der Städte der Form nach verländlichte Dörfer mit einer meist städtischen Bevölkerung: der Neoruralismus als Vorstadt.

Bildentstehung

Die Entwertung, Neubestimmung, Umwertung der Bilder vom Dorf und die Auswirkungen auf die Umgestaltung der Dörfer sind ein Beispiel für Bildynamik, um die es hier geht. Die Geschichte der Stadterneuerung nimmt auch den Weg von den »Rückschrittlichen Vierteln«[6] und der behutsamen Stadterneuerung zur Gentrifizierung. Was man aber an dieser Stelle schon festhalten sollte, ist eine Grundregel der Bildentstehung. An der Veränderung der Bilder sind immer Pioniermilieus beteiligt. Sie sind weniger daran beteiligt, das Bild selber zu »bauen« als durch ihre Vorstellung und Nutzung den Weg für eine Neuinterpretation zu öffnen. Verfallene Bauernhäuser, gründerzeitliche Villen und Stadthäuser sowie verlassene Fabriken, Brauereien und Schlachthöfe werden für neue Bedeutungen und Nutzungen vorbereitet. Da es der Kern der Kultur ist, Deutungen und Bedeutungen zu schaffen, kann man sie auch die kulturellen Milieus nennen. Da die Planenden und Architekturschaffenden diesen Gruppen oft nahe stehen, ist der Transfer zu einer akzentuierten Gestaltung des neuen Bildes relativ leicht. So werden in den Entwürfen bestimmte Teile der Fabrik oder des Wohngebäudes übernommen, andere nicht. Das Fachwerk mit freigelegten Innenbalken im Dachgeschoss ist so eine Bildproduktion, die zeigt: dies ist ein altes Gebäude mit einem neuen Geist. Die Eisen- und Glaskonstruktion herauszuarbeiten ist ein anderes Beispiel für die Umwandlung einer Fabrikhalle als Ort der Produktion in einen Raum kreativen Wohnens. Die Gestaltenden arbeiten an dem Bild, doch häufig mangelt es vorne und hinten an Geld. So mancher Architekt oder manche Architektin muss das neue Bild dann selber bewohnen, weil es keinen Markt hat. Erst wenn innovative oder spekulative Unternehmen eine Vermarktungschance sehen, gewinnt der Bildprozess an Dynamik. Ein Weg, um diese Brücke zu bauen, sind die Veröffentlichungen in ausgewählten Zeitschriften, eine Ausstellungseröffnung mit geladenen Gästen. Auch Raumbilder haben, wenn man so will, ihre GaleristInnen. Die UnternehmerInnen ahnen die kommende Bilddiffusion. Indem sie sie vorausnehmen, treiben sie die Verbreitung des Bildes voran. Haben sie mit ihrer Ahnung recht, so liegt in diesem Zeitvorlauf ihr Gewinn.
Es kann aber auch sein, dass die Politik innovativer ist als die Wirtschaft. Die heftigen Reaktionen auf eine Reihe von Flächensanierungen (zum Beispiel in Berlin-Wedding) und die Kritik an den neuen Trabantenstädten (Berlin, Märkisches Viertel), die die Sanierungsvertriebenen aufnehmen sollten, führten zu einem Stadterneuerungsgesetz, das die Bestandsentwicklung zum Ziel hatte. In diesem Fall wird erst nach einem politischen Anschub eine breite Verwertung des neuen Bildes rentabel.

Zeitgeist und Zeitwert

Es gibt Perioden, in denen die Bilder gleich bleiben, es gibt Zeiten des Kampfes um Bilder, Zeiten des Übergangs und es gibt Phasen, in denen eine Reihe vormals widersprüchlicher Bilder nebeneinander existieren. In welchem Zeitraum man sich befindet, hängt wesentlich vom Wechselspiel von Ökonomie und Kultur ab. Rückblickend erkennt man, dass sich der Kapitalismus als eine Folge unterschiedlicher Perioden verstehen lässt. Der kolonialen Phase eines extensiven Kapitalismus folgte eine stärkere Ausrichtung nach innen. Es ging nun um Kaufkraft und Massenkonsum in den einzelnen Binnenmärkten. Der Fordismus, wie man diese Phase nennen kann, hat nicht nur den Binnenmarkt in den Mittelpunkt gerückt, sondern auch die Systeme sozialer Sicherung, einen hoch arbeitsteiligen Arbeitsalltag, die Mobilität und die Familienzelle als Kompensation dieses dicht regulierten Alltags. Das den Raum ordnende Prinzip dieser Phase war die Zonierung: Nicht nur Wohnen und Arbeit wurden in unterschiedlichen Zonen organisiert, vom Kinderspielplatz bis zum Landschaftsschutzgebiet zieht sich das Prinzip der Zonierung durch. Durch und in der Zonierung schafft sich eine bestimmte Vorstellung von Ordnung ihren Ausdruck. Auf den Raum und seine Bilder bezogen entstehen Parallelwelten. Die durchnummerierten Strandkörbe von Rimini entsprechen der Reihung von Ein- und Zweifamilienhäusern in Deutschland, die Ferienstadt La Grande Motte den Grand Ensembles in Frankreich, die Parkplätze den Naturschutzgebieten, die Plattenbausiedlungen in Ostdeutschland den Datschen im märkischen Wald. Die Architektursprache dieser Zeit war nicht nur in dem extremen Fall der industrialisierten Plattenbausiedlungen im Osten der Standardisierung verpflichtet. In der Standardisierung drückte sich die Gleichheit aus. Alle Menschen haben einen festen Arbeitsalltag, alle konsumieren, alle fahren Auto, alle haben Urlaub.
Wir kennen die Reaktion auf die reduzierte Komplexität dieser Bilder. Die Postmoderne als kulturelle Bewegung entdeckt die Ästhetik und den Fundus, aus dem sich neue Bilder schaffen lassen. Früher, Heute, Nah und Fern lassen sich zu einem bunten Bild zusammenfügen. Die Postmoderne ist auch in der Architektur und im Städtebau typisches Kind des Übergangs wie wir es auch im Klassizismus und im Jugendstil finden. Das Leitmotiv, das den Übergang in Wirtschaft und Gesellschaft antreibt, heißt Flexibilisierung. Mir erscheint dies auch nur als ein Übergangsbegriff von einer Phase der gesellschaftlichen Regulation zu einer neuen, deren Form noch nicht deutlich ist. Ich habe den Eindruck, in offenen Raumbildern zu leben, es gibt viele, aber kaum eines ist verdichtet, aufgeladen, ausstrahlend. Dies ist die Zeit der IndividualistInnen, die sich ihr Bild selber basteln, und es ist die Zeit der BeobachterInnen, die alles und jedes darauf hin abtasten, ob hier ein neues Raumbild entsteht, das eine neue Phase formiert.

Fußnoten


  1. E. Neugebauer: Die Sanierung in Niederzwehren. Heimatbrief Niederzwehren, Heft 6/1968 ↩︎

  2. ausführlich in: Detlev Ipsen: Raumbilder. Pfaffenweiler 1997 ↩︎

  3. Landwirtschaftliches Wochenblatt 1951, S. 1033 ↩︎

  4. Hessen Heute, Staatskanzlei, Hessendienst. Wiesbaden 1964 ↩︎

  5. Henri Mendras: Eine Reise ins Reich der Ländlichen Utopie. Freiburg: Mersch Verlag, 1980, S.71 ↩︎

  6. Katrin Zapf: Rückschrittliche Viertel. Frankfurt/Main 1969 ↩︎


Heft kaufen