Thomas Ballhausen

Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Li­te­r­­­a­turwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.


Nick Cave ist richtigerweise nicht nur als Musiker eine fixe Größe des kulturellen Geschehens – seine Prosaarbeiten und insbesondere seine Lyrics machen immer wieder die literarischen Qualitäten seines Wirkens deutlich. Für die nun auch in deutscher Sprache vorliegende jüngste Veröffentlichung, The Sick Bag Song, hat er sich auf eine Zwischenform verlegt, die in mehrfacher Hinsicht von der Kategorie des Raums, sei es in geografischer oder in poetischer Hinsicht, geprägt ist. Als lyrischer Prosastrom wird eine Tour in den Vereinigten Staaten und Kanada nachgezeichnet, die jeweiligen Städte, von Nashville über Los Angeles bis Montreal, geben die zyklische Kapitelstruktur des Buches ab. Doch wer hier ein Nacherzählen von musikalischen Stationen in Sinne eines Tour-Tagebuchs erwartet, wird angenehm überrascht.
Im Mittelpunkt des Langgedichts stehen nicht so sehr die Auftritte, sondern vielmehr die Passagen des Übergangs. Von den Rändern her erzählt Cave über Getriebenheit, über das Element des Unsteten. Die Kreisbewegung der Tour ist eingebunden in die umklammernde Reflexion über eine Kindheitserinnerung, über das ganz prinzipielle Spannungsverhältnis zwischen dem Objektivitätsanspruch allgemeingültiger Wahrheit und subjektstiftender individueller Erfahrung. Die Unauflösbarkeit der Frage, ob nun etwas tatsächlich so gewesen ist oder ob es auf eigenständige/eigenwillige Weise erinnert wird und damit auf einer verschobenen Ebene Wahrheitsgehalt gewinnt, ist wenig überraschend die poetologische Grundlage von Caves Text.
Bevor sich aber ein Moment von Aussöhnung abzeichnen kann, muss die Tour durchschritten werden: Die titelspendenden sick bags sind hier aber nicht nur Notizzettel, sondern im übertragenen Sinn auch ein diagrammatischer Raum, in dem Cave seine mannigfaltigen Bezüge und Referenzen, die auf den ersten Moment nicht selten widersprüchlich oder auch gegenläufig anmuten, literarisch neu zu einander positioniert. Was sich da findet, macht deutlich, dass der Titel des Buchs keine Zufälligkeit ist, spielt Cave doch sehr gekonnt mit Auswurf und Verwerfung, mit Unrat und Dreck. Es ist also bestimmt nicht das cleanliness bag der asiatischen Zivilluftfahrt, das sich auftut, sondern vielmehr eine wahre Kotztüte (An die Titelwahl der ansonsten sehr gelungenen Übersetzung und das österreichische Spezifikum Speibsackerl soll an dieser Stelle kurz erinnert werden). Wenn also alle in der sprichwörtlich gleichen Tüte sitzen, ist es nur umso stimmiger, wenn Cave auch auf dieser Ebene sein Oszillieren zwischen Dokumentation und Fiktion fortführt und in seinen mythopoetischen Verschränkungen die geschilderten Szenerien in Räume des Phantastischen und Grotesken überführt. Und nichts ist dann wirklicher, als wenn er beispielsweise weiblichen Allegorien von Nationen begegnet oder unter einer Brücke eine pflegebedürftige »Drachin« findet. Die aufwändig gestaltete Ausgabe lädt zum Vergleicht mit dem im Anhang abgedruckten englischsprachigen Original, auf jeden Fall aber zur sofortigen erneuten Lektüre dieses Raum-Texts ein.


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