Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


Der Titel erzeugt heterogene Bilder, er ist programmatisch für die hier versammelten Texte: räumen – Baupläne zwischen Raum, Visualität, Geschlecht und Architektur ist der von Irene Nierhaus und Felicitas Konecny herausgegebene Tagungsband des 2001 von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur veranstalteten Symposions. Die vier Begriffe des Untertitels spannen trotz ihrer Hybridität ein klares thematisches Feld auf: »Raum« wird als eigener Leitbegriff eingeführt, um den Definitionsanspruch der Architektur über diesen zurückzuweisen: Es geht um sozialen Raum, symbolischen Raum und materiellen Raum, nur letzterer ist »Architektur«. Das Wort »Visualität« weist darauf hin, dass es nicht vorrangig um die zweidimensionale Bildfläche geht, sondern die von Architektur und anderen Raumpraxen erzeugten Bilder mitzudenken sind: Der rein funktionale Raum der architektonischen Moderne existiert nicht, jeder noch so neutrale Raum erzeugt Bilder, die sich auf soziale Räume auswirken. Und »Geschlecht« ist die in diesem Band zentrale soziale Perspektive auf Bilder und Räume: Wer erzeugt unter welchen Bedingungen wann welche Räume, und welche Begriffe von Geschlechterverhältnissen werden dadurch möglich oder unmöglich gemacht? Der Titel weist bereits darauf hin: Es geht nicht nur um theoretische Analyse, sondern bei der Untersuchung des thematischen Feldes aus vielfältigen, zu einem interdisziplinären Panorama versammelten Blickwinkeln werden Möglichkeiten der Praxis, der Subversion hegemonialer Sichtweisen, der Verschiebung des Herrschaftssehens aufgezeigt und zur Diskussion gestellt. Auf die Möglichkeit zur Inanspruchnahme dieser Praxis deutet das Verb »räumen« hin – nicht der statische, sondern der von den handelnden Personen erzeugte, »eingeräumte« Raum ist das Thema, und der aktuelle Status kann »umgeräumt« werden, auch wenn aktuell die Ausgangsposition dafür nicht gerade günstig ist: Ein Aufruf zur Selbstermächtigung.
Um beim »interdisziplinären Panorama« zu bleiben: Dass Sehpraxen nicht natürlich sind, sondern auf gemachten, Geschlechtlichkeit erzeugenden Bildern von Seher und Gesehenem basieren, zeigt Irene Nierhaus in ihrem Beitrag Big Scale – das Panorama als beherrschende Sehweise ist männlich konnotiert. Der Betrachter erzeugt sich damit die Stadt als zu ordnendes Objekt: Und der Ort, von dem aus dies geschieht, ist beispielsweise das – ebenfalls männlich konnotierte – Hochhaus, das als Ordnungsfigur ins Chaos der Stadt platziert wird. Dieser Blick lässt sich ergänzen durch den skopischen Blick durchs Fernrohr, als Distanz schaffender, Zentralität erzeugender, kontrollierender Blick, der die beobachteten Vorgänge zur Bildminiatur reduziert. Mythische Bilder solcher Blickenden sind der Architekt als Autor-Beobachter und der Künstler-Pilot, dem sein Flugkörper die mobile Supervision erlaubt.
Objekt des ordnenden Autors ist die weiblich konnotierte Stadt, die Eva Warth in ihrem Text Weiblichkeit und Metropole anhand von Stadtfilmen untersucht. In die in den 20er Jahren diskutierte Nähe von Großstadt und Filmästhetik schieben sich ältere Diskurse der Gleichsetzung von Weiblichkeit und Stadt, von Technisierung und »destruktiver weiblicher Sexualität«. Die Stadt als »Hure Babylon« ist in den Filmen dieser Zeit die Verführerin, die bedrohliche Masse, die Großstadtmaschine. In der NS-Zeit wird diese Opposition verstärkt und umgewertet: Die Stadt wird zur Bedrohung der männlichen Omnipotenz, die sich am besten am Land entfalten kann. Dieses Bild widerspricht allerdings der nötigen Konzeptualisierung der Industriegesellschaft, die in dem Film Großstadtmelodie schließlich durch eine positive Darstellung der berufstätigen Frau in der Stadt erreicht wird: Im Blick der Fotografin, die vor allem Landschafts- und Portraitbilder sieht, wird die Stadt provinzialisiert, die Frau selbst wird ebenso wie die Stadt enterotisiert und kann so in den Produktionsprozess integriert werden.
Einen anderen medialen Raum untersucht Linda Hentschel in »Das Gefallen am Obszönen«, nämlich den der Stereoskopie. Sie konstatiert eine strukturelle Analogie zwischen stereoskopischer Räumlichkeit und obszönem Körperbild. Die von 1850 bis 1890 boomende Stereoskopie, deren Sujets vor allem Straßenräume, Interieurs und Pornografie waren, stellt dem körperlosen Sehen der Fotografie ein subjektives, körpergebundenes Sehen gegenüber, das den Betrachter in den Bildraum einbezieht, eindringen lässt, und das auf das Subjekt einen Dezentralisierungseffekt ausübt, keine Übersicht erlaubt. »Das Obszöne an der Stereoskopie ist, dass sie keinen mütterlichen Bildraum zur Verfügung stellt« – sie ist per se obszön, und nicht erst durch die pornografischen Sujets.
Räumen widerspricht mit diesen und zwölf weiteren Texten der Naturalisierung von Geschlechterverhältnissen in Bild und Bau mit einer Analyse, die die dafür nötige Kohärenz des Bildes verweigert und im so entstandenen Riss eine Möglichkeit der Änderung der sozialen Räume aufblitzen lässt.

Irene Nierhaus/Felicitas Konecny (Hg.)
räumen. Baupläne zwischen Raum, Visualität, Geschlecht und Architektur
Wien 2002 (Edition Selene)
304 S., EUR 21,70


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